Börsengang – unterschätzte Option für den Mittelstand?

Börsengang ist nicht gleich Börsengang

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Es fehlt an Liquidität, Talenten und Nachfolgeoptionen. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Und vielleicht ist ein Börsengang für den deutschen Mittelstand gar keine so schlechte Alternative wie lange befürchtet – insbesondere wenn nicht jeder Börsengang die gleichen Anforderungen und Pflichten mit sich bringt.

Das Sinnbild des deutschen Mittelstands: der Motor für zukünftiges Wirtschaftswachstum und Beschäftigung, auch nach der Krise und im neuen ESG-Zeitalter. Doch die mittelständischen Unternehmen in Deutschland kämpfen aktuell mehr denn je mit diversen Vorurteilen: konservativ, steif, veränderungsresistent, zu männlich. Neben den Auswirkungen von COVID-19, der voranschreitenden Digitalisierung und dem neuen Megatrend ESG wird der Mittelstand nach einer aktuellen Veröffentlichung der KfW mit einem akuten Nachfolgeproblem konfrontiert. Der dynamische Unternehmer, der Neues probiert, agil und nachhaltig wirtschaftet − diesen braucht es, um attraktiv auf talentierte Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten, Investoren und potenzielle Nachfolger zu wirken. Gegenwärtig scheint er jedoch ein rares Wesen zu sein.

Kulturwandel eröffnet neue Möglichkeiten

Der Börsengang (Listing/IPO) hat sich noch nicht zu einer festen Alternative des deutschen Mittelstands entwickelt. Die Idee, das eigene Unternehmen an die Börse zu bringen, ist jedoch bereits zahlreichen Unternehmern auf der Suche nach Finanzierungsoptionen durch den Kopf gegangen. Gerade im aktuellen disruptiven Wandel und unter Beobachtung der Rally an den Kapitalmärkten ist der Börsengang eine reale Finanzierungsalternative zur Umsetzung der Wachstumsstrategie und Stärkung der Eigenkapitalbasis – denn eine verbesserte Kapitalstruktur eröffnet weitere, oftmals günstigere Finanzierungsquellen und bietet finanzielle Unabhängigkeit.

Wesentliches Hemmnis der Umsetzung bleibt die Angst vor Kontrollverlust und erhöhten Transparenzanforderungen. Insbesondere Familienunternehmer befürchten häufig, dass sie mit einem Börsengang die Kontrolle über das Unternehmen verlieren. Dagegen kann über die Wahl der Rechtsform, die Gestaltung der Satzung und generell die Strukturierung des IPOs ein maßgeblicher Einfluss sichergestellt werden. Es besteht für Eigentümer stets die Möglichkeit, als Ankerinvestor oder Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrats weiterhin Einfluss zu nehmen.

Praxisüblich ist beispielsweise auch die Umwandlung der Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) mit dem Ziel, weiterhin Kapital über die Börse zu erhalten, zugleich aber die Kontrolle durch die Familie zu sichern.

Ist Blut wirklich dicker als der Cashflow?

Familienunternehmen und Börsennotierung sind kein Widerspruch. Fielmann, Fuchs Petrolub, Sixt, Ströer, Schaeffler, Henkel, Wacker Neuson, Drägerwerk, Merck und auch BMW machen es vor. Alle haben eines gemeinsam: Sie tummeln sich als deutsche Familienunternehmen auf dem großen Börsenparkett in Frankfurt. Transparenz, klare (Finanz-)Berichterstattung, erhöhte Corporate-Governance-Anforderungen und kontinuierliche Bewertung werden als Preis in Kauf genommen. Aber wofür? In einer globalen Welt, in der die Preise für Realinvestitionen kontinuierlich ansteigen, war das IPO für Familienunternehmen in den letzten Jahren ein passendes Instrument, die Interessen und Bedarfe des Unternehmens einerseits und der Familie andererseits auszubalancieren – denn mittels Börsengang werden Unternehmen zur Sicherstellung der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit mit ausreichend Kapital ausgestattet, ohne dass der Anteil des Unternehmenswerts am gesamten Familienvermögen zu groß ist. Neben dieser Risikodiversifizierung spielt für Familienunternehmer auch die Vermeidung von Interessenkonflikten innerhalb der Familie zwischen Angehörigen, die im Unternehmen engagiert sind, und Familienmitgliedern, die andere Lebensinteressen haben, eine bedeutsame Rolle. Das IPO schafft Handlungsspielräume für eine vorweggenommene Nachfolge. Knorr-Bremse zeigt aktuell, wie es laufen kann, wenn die Nachfolge nicht frühzeitig geregelt wird.

Zu klein für den deutschen Kapitalmarkt?

Es lohnt sich aber auch, den Blick auf die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu werfen. Denn es muss nicht immer die Frankfurter Wertpapierbörse sein: Beim Gang an die Börse haben Unternehmen die Wahl zwischen dem EU-regulierten Markt und dem privatrechtlichen Freiverkehr. Wenn wir von „börsennotierten“ Unternehmen sprechen, wie beispielsweise jüngst der fashionette AG oder der Veganz Group AG, steht dies nicht immer einer Börsennotierung im regulatorischen Sinne gleich. Nicht jedes Unternehmen, das Eigenkapitaltitel zur Einbeziehung in einen Handelsplatz ausgibt, ist zugleich ein kapitalmarktorientiertes Unternehmen i.S.d. § 264d HGB beziehungsweise ein börsennotiertes Unternehmen i.S.d. § 3 Abs. 2 AktG. Die Kapitalmarktorientierung setzt voraus, dass die Aktien an einem organisierten Markt zugelassen sind oder eine Zulassung beantragt wurde. Die Börsennotierung als Unterform der Kapitalmarktorientierung stellt ausschließlich auf die Zulassung der Aktien zu einem organisierten Markt ab. Daneben existiert der sogenannte Freiverkehr – und genau dieser ist vermutlich von großem Interesse für KMU in Deutschland.

Denn die praktischen Folgen dieser feinsinnigen Unterscheidung sind groß. Geringere Zulassungs- und Folgepflichten sowie niedrigere Notierungskosten sind charakteristisch für den Freiverkehr. Auch der Aufwand für Public- und Investor-Relations-Tätigkeiten unterscheidet sich erheblich.

So unterliegen kapitalmarktorientierte Unternehmen beispielsweise stets den umfangreichen handelsrechtlichen Rechnungslegungs-, Berichts- und Corporate-Governance-Pflichten, die für große Kapitalgesellschaften gelten. Mit der Börsennotierung im regulierten Markt wird ferner die Finanzberichterstattung nach den International Financial Reporting Standards (IFRS) für die Unternehmen zur Pflicht. Im Freiverkehr hingegen können auch HGB-Bilanzierer Aktien an der Börse platzieren und auf eine Umstellung der Rechnungslegung verzichten.

An den von der Deutschen Börse AG betriebenen Handelsplätzen, der Frankfurter Wertpapierbörse und dem Xetra-System, wird der Freiverkehr als Open Market (mit dem Teilsegment Scale) bezeichnet. Das entsprechende Freiverkehrssegment an der Börse München heißt m:access, das analoge Freiverkehrssegment der Börse Düsseldorf nennt sich Primärmarkt.

Kapitalmarkt als möglicher Erfolgsfaktor

Im Kapitalmarktumfeld existiert keine „One-size-fits-all-Gewinnformel“. KMU besetzen zumeist lukrative Nischen, erzielen häufig höhere Gewinnmargen. Sie zählen nicht selten zu den „Hidden Champions“ ihrer Branche. Statt kurzfristiger Gewinne verfolgen mittelständische (Familien-)Unternehmen vorrangig nachhaltige Ziele. Das kommt gut bei Investoren an und erhöht die langfristigen Börsenaussichten.

Die Festlegung der geeigneten Kapitalmarktstrategie ist kritisch für das Gelingen des Börsengangs. Die Wahlen des Kapitalmarkts und des Börsensegments müssen im Einklang mit der Unternehmensstrategie stehen. Dabei ist die Vorbereitung auf den Börsengang ebenso entscheidend wie die fortlaufende Kurspflege sowie Positionierung auf dem Parkett. Die Einhaltung der Transparenzversprechen an Investoren, Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten wird zur (zeitintensiven) Kernaufgabe.

Fazit

Auch wenn die Wahl unter Abwägung aller Chancen und Risiken nicht auf den Börsengang fällt, sollten Unternehmen jederzeit kapitalmarktfähig sein, ohne den Kapitalmarkt zwingend zu brauchen. Das heißt, sie sollten jederzeit veräußerbar sein, ohne zwingend verkauft werden zu müssen – denn die Zeiten sind vorbei, in denen eine solide Bankenfinanzierung für nachhaltige Unternehmensentwicklung ausreichend war. Es geht dabei um weitaus mehr als Liquidität…

Autorenprofil
Sarah Kasper

Sarah Kasper ist Partnerin, Wirtschaftsprüferin und Steuerberaterin bei Schlecht und Partner und verantwortet den Bereich Transaction & Financial Advisory Services. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte liegen in der Beratung kapitalmarktorientierter und mittelständischer Unternehmen – national sowie international.

Kontakt: s.kasper@schlecht-partner.de

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