Unternehmeredition: Herr Prof. Lindner, wie ist der deutsche Mittelstand bisher in Osteuropa aufgestellt? Wo gibt es noch Nachholbedarf?
Lindner: Allein in Russland sind über 6.000 deutsche Firmen vertreten, dabei handelt es sich überwiegend um Mittelständler. Der deutsche Mittelstand hat also die Zeichen der Zeit erkannt, stellt sich international auf und denkt dabei zunehmend über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Probleme haben deutsche Mittelständler insbesondere mit den ungewohnten Strukturen vor Ort. Es gibt rechtliche Unsicherheiten und die Projektfinanzierung wird schwieriger, je weiter man sich von Deutschland entfernt. Fast alle Länder östlich der EU, egal ob Russland, die Ukraine, Kasachstan oder Belarus sind wenig mittelständisch orientiert. Oft muss man mit Staatsunternehmen oder direkt mit Regierungen verhandeln. Genau hier bietet der Ost-Ausschuss seine Hilfe an.
Unternehmeredition: Welche osteuropäischen Länder stehen am stärksten im Fokus deutscher Unternehmen? Welche interessanten „Newcomer“ gibt es?
Lindner: Russland ist mit über 140 Mio. Einwohnern auf lange Sicht der größte Wachstumsmarkt in Europa. Das Land wird beispielsweise in absehbarer Zeit Deutschland als wichtigsten Automarkt in Europa überholen. Russland plant zudem in den nächsten Jahren bedeutende Sportereignisse, wie die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, die Formel 1 ab 2015, die Eishockey WM 2016 und die Fußball-WM 2018. Der Investitionsbedarf ist enorm, das Land muss weite Teile seiner Infrastruktur modernisieren oder neu bauen. Aber auch die Ukraine mit über 40 Mio. Einwohnern und den fruchtbarsten Böden Europas hat enormes Potenzial, in der Landwirtschaft, aber auch in der Schwerindustrie. Ein länderübergreifendes Thema ist die Verbesserung der Energieeffizienz. Auch im östlichen Europa steigt das Bewusstsein für ressourcenschonende Technologien.
Unternehmeredition: Welche Ziele verfolgen deutsche Unternehmer heutzutage primär mit Ihrem Engagement in Osteuropa: geht es in erster Linie um günstige Produktionsstätten oder um die Erschließung neuer Absatzmärkte? Welche Vorteile haben die Staaten Osteuropas als günstige Produktionsstandorte gegenüber Indien und China?
Lindner: Die Länder Mittel- und Osteuropas sind sowohl als Absatzmarkt als auch als Produktionsstandort für die deutschen Mittelständler interessant. Dabei ist eine verstärkte Bewegung gen Osten zu beobachten. Die Märkte der neuen EU-Mitglieder sind mittlerweile als Produktionsstandort zu teuer geworden, die Unternehmen suchen nach günstigeren Bedingungen östlich und südöstlich der EU. Dabei haben die Staaten Osteuropas entscheidende Vorteile gegenüber China oder Indien. Die Märkte liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Und die Länder Osteuropas sind kulturell und historisch viel enger mit Deutschland verbunden als die asiatische Konkurrenz.
Unternehmeredition: Wie schätzen Sie die konjunkturellen Aussichten Osteuropas 2012 ein?
Lindner: Zurzeit wachsen wichtige Länder wie Russland und die Ukraine im Schnitt um vier Prozent. Damit gibt es in Osteuropa derzeit deutlich mehr Wachstum als in der EU. Im kommenden Jahr dürfte sich die Entwicklung etwas abschwächen. Dies hat mit den Auswirkungen der Schuldenkrise in Europa zu tun. Die Nachfrage nach Produkten und Rohstoffen aus Osteuropa sinkt tendenziell. Wie stark der Rückgang sein wird, lässt sich aber derzeit nicht abschätzen.
Unternehmeredition: Was sind aus ihrer Sicht die größten Herausforderungen für deutsche Unternehmer in Osteuropa und wie können Sie diese meistern?
Lindner: Sorgen bereitet den Mittelständlern zuweilen die Finanzierung ihrer Projekte. Dies wurde insbesondere in der weltweiten Finanzkrise sichtbar. Aber auch hier können die Unternehmen auf die guten Verbindungen in Deutschland zurückgreifen. Viele Hausbanken begleiten Ihre Kunden im Ausland und bieten Ihre Leistungen auch in Mittel- und Osteuropa an. Neben dem Finanzierungsproblem haben mittelständische Unternehmen mit der Bürokratie zu kämpfen. Die Rahmenbedingungen entsprechen noch nicht dem westlichen Niveau. Ein gravierendes Problem ist mit der Politik der Europäischen Union verbunden. Ich spreche hier von der Visa-Frage. Visa sind ein Investitionshemmnis, Visa verursachen Wettbewerbsnachteile und Visa sind ein Kostenfaktor. Wir gehen davon aus, dass die bestehenden Regelungen die europäische Wirtschaft und die Steuerzahler jährlich mit hunderten von Millionen Euro belasten. Der Ost-Ausschuss setzt sich sehr stark für den visafreien Verkehr zwischen der Europäischen Union und Osteuropa ein.
Unternehmeredition: Was ist Ihr wichtigster Rat an deutsche Unternehmer?
Lindner: Aller Anfang ist schwer. Wie bei jedem Auslandsengagement muss der potenzielle Markt genau beobachten werden. Ohne inländische Partner ist es oft schwer, in einem Markt Fuß zu fassen und diese Partner sollte man sorgfältig auswählen. Mittelstandskonferenzen und Fachveranstaltungen, wie sie der Ost-Ausschuss mit vielen Ländern im Osten der EU durchführt, sind dabei eine wichtige Orientierungshilfe.
Unternehmeredition: Herr Prof. Lindner, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Markus Hofelich.
markus.hofelich@unternehmeredition.de
Zur Person: Prof. Dr. Rainer Lindner
Prof. Dr. Rainer Lindner ist Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Dieser vertritt seit 1952 die Interessen der deutschen Unternehmen in den Märkten Russland, Belarus, Ukraine, Zentralasien, im Kaukasus und in Südosteuropa und versteht sich als Mittler zwischen Wirtschaft und Politik in Deutschland und in Osteuropa. www.ost-ausschuss.de
Markus Hofelich ist Gastautor.