Im ersten Halbjahr 2024 zeigte sich der M&A-Markt für den Industriesektor von einer dynamischen Seite. Besonders bemerkenswert ist das Comeback der sogenannten Value Deals, die durch positive Bewertungen und profitable Transaktionen gekennzeichnet sind. Im Gespräch mit Robert Aigner-Lütterfelds, Managing Partner bei der auf den europäischen Industriesektor spezialisierten M&A-Beratung MP Corporate Finance, erfahren wir mehr über die Trends und Perspektiven für die kommenden Monate.
Unternehmeredition: Wie hat sich das M&A-Umfeld im Industriesektor im ersten Halbjahr 2024 entwickelt? Welche Trends beobachten Sie?
Robert Aigner-Lütterfelds: Im ersten Halbjahr 2024 sahen wir eine Belebung bei den sogenannten Value Deals, insbesondere im klassischen Industriebereich. Dazu zählen vor allem Nachfolgeregelungen und Exits, weniger Non-Core-Carve-out-Transaktionen, mit denen unsere auf ausgewählte Industriesubsektoren spezialisierten Teams in den letzten zwei Jahren stark beschäftigt waren. Durch die diversen wirtschaftlichen Umbrüche und Krisenherde lag der Fokus in den letzten Jahren vor allem auf der Veräußerung von Randbereichen für Konzerne, oft für wenig Geld oder um Sorgen abzunehmen. Solche Transaktionen finden natürlich nach wie vor statt, doch die Anzahl an wertgenerierenden und profitablen Deals steigt deutlich. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu noch vor ein paar Monaten, der sich vor allem mit dem zwar nach wie vor moderaten, aber zunehmend positiveren Bewertungsniveau begründen lässt.
Heißt das, Sie erkennen Anzeichen für eine wieder erstarkende Industrie?
Für den Bereich M&A ist das sicherlich eine positive Entwicklung. Einerseits ist das Finanzierungsumfeld stabiler und klarer geworden. Wir haben den Peak bei den Zinsen überschritten und ein neues „Normal“ erreicht. Andererseits sind Verkaufsprozesse aktuell nicht mehr ausschließlich marktgetrieben, sondern eben auch durch langfristige Themen wie Nachfolgeregelungen bedingt. Als Eigentümer mit entsprechendem Verkaufsmotiv muss man früher oder später sein Vorhaben umsetzen, auch wenn man den Zeitpunkt um zwei bis drei Jahre hinauszögern kann. Nach den diversen Schocks der vergangenen Jahre entscheiden sich wieder mehr Unternehmen aktiv zu verkaufen, weil es schlichtweg keine Ausreden mehr gibt, es nicht zu tun, oder weil organisatorische und strukturelle Notwendigkeiten dafür bestehen. Und genau das führt auch zu dieser Belebung, die wir derzeit beobachten können.
Die großen Schocks wie Corona liegen eine Weile zurück. Und dennoch ist der große Durchbruch bislang ausgeblieben, oder?
Schocks gab es und wird es immer wieder geben. Ein gutes Beispiel dafür ist die Automobilbranche, die in den vergangenen Jahren immer wieder Tiefen erlebt hat. Nach der großen Krise 2017/2018 haben sich viele in der Branche entschieden, ihr Unternehmen zu verkaufen, weil niemand den nächsten großen Crash erleben wollte. Insgesamt ist die Automobilindustrie widerstandsfähiger geworden, aber den perfekten Zeitpunkt für einen Verkauf gibt es nicht. Für diese Entscheidung spielen viele Faktoren eine Rolle, sowohl was den Markt als auch die individuelle Strategie und Ziele betrifft, sei es als Privatperson, Konzern oder Investor.
Also ist es im Gegensatz zu früher, als man oft von dem „richtigen Zeitpunkt“ für Investitionen gesprochen hat, heute weniger eindeutig?
Das hängt davon ab, von welcher Perspektive aus man das betrachtet. Verkäufer haben oft andere Gründe als Investoren, die Risiko und Rendite anders bewerten, wenn sie in eine Branche oder eine bestimmte Nische einsteigen. Eine hohe Unsicherheit im Markt führt zu niedrigeren Bewertungen, und genau das kann wiederum auch Chancen bieten. Es geht immer um ein Dreieck aus Investitionszeit, erwarteter Rendite und Risikobereitschaft. Das gilt auch für den M&A-Bereich. In klassischen Industriesektoren wie der Automobilbranche gibt es wahrscheinlich kaum bessere Zeitpunkte für Investitionen als jetzt. Die Bewertungen sind stabil auf einem niedrigen Niveau. Zudem herrscht aufgrund von Megatrends wie E-Mobilität und dem damit verbundenen Transformationsdruck viel Dynamik in diesem Markt. Überspitzt könnte man sagen: Nach zahlreichen Tiefschlägen, insbesondere für Zulieferer in der Branche, sieht man nun Licht am Ende des Tunnels – zumindest in der näheren Zukunft.
Welche Branchen profitieren noch von den aktuellen Bedingungen?
Generell erfährt der Industriesektor, sowohl in Deutschland als auch europaweit, derzeit großes Interesse. Das sehen wir auch in unserer eigenen Projektpipeline. Enterprise Software und Data ist beispielsweise ein Segment, das ganz klar von der aktuell vermehrten Nachfrage nach Asset-Light-Business-Modellen profitiert. Auf der Investorenseite gibt es viele Private-Equity-Firmen, die auf Skalierungspotenziale setzen. Das führt zu hohen Bewertungen, da die Wertsteigerung nicht nur durch Financial Engineering, sondern tatsächlich durch Wachstum erreicht wird. Auch der Bereich MedTech zieht nach einem leichten Bewertungsrückgang im Jahr 2023 wieder deutlich an, da das Thema Gesundheit zu einem langfristigen Mega-Trend aufsteigt, besonders in Westeuropa und den USA.
Auch im Bereich Factory Automation und dem Verpackungssektor herrscht aktuell viel Dynamik. Warum wird gerade in diesen beiden Bereichen so viel investiert?
Beides sind sehr spannende und innovative Industrien. Der Bereich Factory Automation hat in Sachen Bewertungsniveau fast wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Die EBITDAs liegen im deutlich zweistelligen Bereich. Hier dominieren vor allem Megatrends wie Fachkräftemangel und Effizienznotwendigkeit die Aktivitäten. Die Wettbewerbsfähigkeit leidet weltweit, auch in Deutschland und Österreich. Und das setzt viele Unternehmen in der Branche unter Druck, ihre Effizienz durch ein noch höheres Maß an Automatisierung weiter zu steigern, um im internationalen Vergleich nicht den Anschluss zu verlieren. Das beflügelt Investitionen in dieses Segment.
Im Bereich Packaging, einem unserer wichtigsten Industriesegmente, sahen wir bereits im ersten Halbjahr sehr viele Transaktionen, überwiegend mit Cross-Border-Beteiligungen. Ein Grund dafür ist sicherlich auch der Nachholeffekt, den die Branche nach vielen erfolgsverwöhnten Jahren und den darauffolgenden, krisenbedingt schwierigeren zwei bis drei Jahren nun erlebt. Ein weiterer Treiber für Investitionen im Packaging-Sektor ist natürlich auch das Thema ESG. Ähnlich wie in der Automobilindustrie gibt es im Verpackungsbereich viele Emotionen und Diskussionen. Die Transformation hin zu nachhaltigen Verpackungslösungen und Kreislaufwirtschaft spielt eine wichtige Rolle bei den Transaktionen. Aber natürlich kosten Veränderungen und Innovationen in der Regel auch immer Geld. Der Verpackungssektor ist an sich ein sehr kapitalintensiver Markt, und das wiederum regt die M&A-Aktivitäten an.
Mit Rosenbauer und Aluflexpack, beide börsennotiert, hat MP in diesem Jahr zwei bedeutende Transaktionen im Automobil- und Verpackungsbereich abgewickelt. Können Sie Details dazu teilen?
Bei Rosenbauer ging es um eine Kapitalerhöhung mit zusätzlichem Verkauf eines Aktienpakets der bisherigen Mehrheitseigentümerfamilie, mit dem Ergebnis eines neuen starken Hauptaktionärs und gleichzeitiger Beibehaltung der Unternehmensidentität durch die weiterhin signifikante Beteiligung der Gründerfamilie. Das Unternehmen befand sich in einer herausfordernden Lage, mit hoher Verschuldung und einem negativen Jahr 2022, ausgelöst durch die Verschärfung der Lieferketten und daraus resultierender längerer Durchlaufzeiten in der Produktion. Trotz der schwierigen Marktbedingungen konnten wir eine Prämie von 16,9% auf den durchschnittlichen dreimonatigen Aktienkurs erzielen, was ungewöhnlich ist, da Kapitalerhöhungen normalerweise mit einem Discount verbunden sind. Dies gelang durch einen gezielten Over-the-Counter-Prozess (OTC), der Dynamik in die Transaktion brachte.
Bei Aluflexpack handelte es sich um den Exit des Mehrheitsgesellschafters an einen strategischen Käufer zu einer deutlichen Prämie über dem Aktienkurs. Auch hier ging es darum, große strategische Projekte umzusetzen, anstatt „nur“ eine Kapitalmarkttransaktion abzuwickeln.
Beide Unternehmen sind in ihrer jeweiligen Branche hervorragend positioniert. Rosenbauer ist Weltmarktführer, während Aluflexpack in seinem Bereich ebenfalls eine starke Marktposition innehat. Bei beiden Transaktionen spielte die langfristige Wertschöpfung eine entscheidende Rolle.
Was waren die Erfolgsfaktoren bei den beiden Deals?
Bei beiden Transaktionen waren die entscheidenden Erfolgsfaktoren eine stringente Prozessführung mit den bestmöglichen Interessenten auf OTC-Basis, was zu hoher Kontrolle in der Verhandlungsführung inklusive Timeline sowie dem notwendigen Wettbewerbsdruck geführt hat, um jeweils ein überdurchschnittliches Ergebnis zu erreichen. Basis für die straffe Zeitschiene war eine entsprechende Vorbereitung und Dokumentation, die es erst ermöglicht hat, mit mehreren Interessenten parallel den Prozess zu durchlaufen, um am Ende mehrere valide Optionen für den Abschluss zu haben. Beide Transaktionen haben durch die Einbeziehung von strategischen Investoren in den Kapitalmarktprozess, einen strategischen Mehrwert für die beiden Unternehmen beziehungsweise deren Aktionäre generieren können.
Der Internationalisierungstrend setzt sich vor allem im Automobilsektor fort. Aus europäischer Perspektive scheint die USA Asien den Rang abgelaufen zu haben. Wie bewerten Sie das?
Der chinesische Markt hat spürbar an Komplexität zugenommen und wird für europäische Unternehmen zunehmend schwieriger zu durchdringen. Zudem hat sich auch der lokale Wettbewerb intensiviert. Viele Unternehmen kämpfen darum, sich gegen die schnell wachsenden OEMs aus China zu behaupten. Hinzu kommen politische und wirtschaftliche Unsicherheiten, die den chinesischen Markt weniger attraktiv erscheinen lassen. Auch die Marktstruktur in China hat sich im Vergleich zu früher deutlich verändert. Amerika hingegen hat spürbar an Attraktivität gewonnen, weil der Markt aus europäischer Perspektive neue Chancen bietet, insbesondere in den Bereichen Produktion und Technologie. Viele der US-Unternehmen haben es in den letzten Jahrzehnten versäumt, in ihre Produktionsanlagen zu investieren, was zu veralteten Produktionsbedingungen geführt hat. Genau darin liegt die Möglichkeit für europäische Investoren, die bereit sind, in die Modernisierung und Verbesserung der Produktionsbedingungen zu investieren.
Wo sehen Sie den besonderen Vorteil für Europäer und Deutsche im US-amerikanischen Markt?
Europäische Firmen bringen umfangreiches Know-how und eine starke Arbeitskultur mit, die im US-amerikanischen Markt auf fruchtbaren Boden fallen können, insbesondere angesichts des erheblichen Fachkräftemangels in den USA. In Deutschland ist es unüblich, dass Fachkräfte aus der Industrie in niedrig qualifizierte Jobs wechseln. In den USA jedoch kommt dies häufiger vor, da die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in einigen Industriebereichen oft sehr schlecht sind. Dadurch riskieren viele Unternehmen den Verlust von Industrie-Know-how, was für europäische Player, die sich in den USA niederlassen, wiederum klare Chancen bietet.
Wenn wir die aktuellen Kennzahlen betrachten, sehen wir eine hohe Dynamik bei Small- und Mid-Cap-Transaktionen. Aber bei Large Caps scheint es immer noch Zurückhaltung zu geben. Können Sie uns die Gründe oder Hintergründe dafür erklären?
Sicherlich gibt es eine Art Zurückhaltung in den Märkten. Besonders im Bereich Private Equity hat man in den letzten Monaten gesehen, dass es schwierig geworden ist, Kapital einzusammeln. Dennoch sollten wir uns eher grundsätzlich die Frage stellen, ob es tatsächlich Zurückhaltung ist oder einfach nur kein Boom, an den wir lange Zeit gewöhnt waren. Natürlich spielt das Thema Finanzierung nach wie vor eine Rolle. Es hat eine Weile gedauert, bis alle Player akzeptiert haben, dass Finanzierungsmittel nicht mehr so günstig zu haben sind – sowohl in Bezug auf das Volumen als auch auf die Kosten. Besonders der Large-Cap-Bereich hat sich damit schwergetan. Gewisse Finanzierungsvolumina stehen schlichtweg nicht mehr zur Verfügung. Wann und ob sich das wieder ändern wird, ist derzeit noch schwierig zu beantworten. Dadurch sind aber auch alternative Finanzierungspartner verstärkt in den Fokus gerückt, allen voran Debt Fonds. Diese profitieren von den aktuellen Entwicklungen und sorgen im Markt für eine gewisse Belebung.
Wie sehen Sie die Zukunft des M&A-Marktes im Industriesektor, kurzfristig und in den nächsten fünf Jahren?
Was MP betrifft, war das erste Halbjahr sehr erfolgreich und auch die Aussichten für das zweite Halbjahr sind positiv. Was den langfristigen Marktausblick betrifft, ist davon auszugehen, dass geopolitische Einflüsse auch über die nächsten fünf Jahre hinweg eine zentrale Rolle spielen werden. Insbesondere die Entwicklungen in den USA und mögliche Auswirkungen der Wahlen könnten den „Go Local“-Trend verstärken, was eine intensivere Lokalisierung von Produktionsstätten und Lieferketten bedeutet. Der Industriesektor selbst wird weiterhin vielfältig, stabil, aber auch herausfordernd bleiben. Veränderung und Disruption werden über die nächsten zwei Jahrzehnte zentrale Herausforderungen bleiben. Und das zwingt die Unternehmen, sich kontinuierlich anzupassen und zu investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Natürlich wird auch das Thema ESG weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Spannend werden dabei sicherlich die Auswirkungen politisch gesteuerter ESG-Initiativen sein. Wenn regierungsseitige Versprechen nicht eingehalten werden, kann das zu unvorhergesehenen Problemen führen – vor allem für Unternehmen, die große Investitionen in neue Technologien getätigt haben. M&A wird demnach ein noch wichtigeres Thema werden, nicht nur für Unternehmen, die aufgrund von Fehlplanungen oder gescheiterten Investitionen in Schwierigkeiten geraten, sondern weil die gesamte Industrie unter Transformationsdruck steht. Unternehmen, die in der Lage sind, diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern und sich an die ständig neu verändernden Bedingungen anzupassen, werden langfristig von den daraus resultierenden Chancen profitieren.
Abschließend noch eine Frage: Inwiefern wird Künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle im M&A-Bereich spielen, insbesondere für Zukäufe?
Das ist eine schwierige Frage. Den Nutzen von KI für hohe M&A-Preise im Industriesektor zu rechtfertigen, sehe ich kritisch. Bleiben wir beim Beispiel Industrie: In diesem Sektor geht es darum, für möglichst effiziente, weitgehend automatisierte Prozesse durch vernetzte Maschinen-/Processlines zu sorgen, was wir als Digitale Fabrik mittels Anwendung von Industrie 4.0 bezeichnen. KI ist hier eher Mittel zum Zweck, um die Möglichkeit der erhöhten Datenerfassung durch Sensorik, etc. – Datenverarbeitungslogik und -abgleich noch schneller und intelligenter umzusetzen. Gerade in Europa (teilweise auch in Asien) ist man hier schon sehr weit vorgedrungen. Natürlich ist Factory Automation eine Entwicklung, die den M&A-Markt antreibt. Aber dabei geht es weniger um die Integration von KI in die Produktion – das ist in Europa bis zu einem gewissen Grad bereits Standard – als vielmehr um den Nachholbedarf beim Einsatz von KI in Businessprozessen oder in anderen unternehmerischen Bereichen, wie beispielsweise dem Marketing.
Lieber Herr Aigner-Lütterfelds, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch!
Das Interview führte Eva Rathgeber.
👉 Dieser Beitrag ist erschienen in der aktuellen Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2024 mit den Schwerpunkten “Unternehmensverkauf/M&A/Private Equity”.
ZUR PERSON
Robert Aigner-Lütterfelds verfügt über mehr als 20 Jahre M&A-Expertise im Industriesektor, mit Schwerpunkt auf die Metallindustrie. Er hat erfolgreich Projekte in Europa und dem NAFTA-Raum, u.a. für globale Konzerne, Familienunternehmen und Private-Equity-Gesellschaften, abgeschlossen.
www.mp-corporatefinance.com
Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.