Die Unternehmensnachfolge zählt für viele mittelständische Unternehmen in Deutschland zu den drängendsten Herausforderungen der kommenden Jahre. Gleichzeitig eröffnen neue Entwicklungen am Kapitalmarkt Chancen – aber auch Risiken – für Unternehmen, die diesen Weg beschreiten wollen. Wir sprachen darüber mit Jens Binding, Partner bei, und Prof. Dr. Christoph Becker, Professor für Finanzmathematik an der Hochschule Darmstadt.
Unternehmeredition: Wie schätzen Sie die aktuelle Nachfolgesituation in Deutschland ein?
Jens Binding: Nach dem DIHK-Report Unternehmensnachfolge 2024 gibt es 8.276 Seniorunternehmer und 2.760 Übernahmeinteressierte. 28% der von der DIHK Beratenen geben an, dass sie die Unternehmensschließung mangels Nachfolge erwägen.
Prof. Dr. Christoph Becker: Die Zahlen allein sind eindrücklich und die Tendenz noch besorgniserregender: Die Zahl der Seniorunternehmer steigt auf immer neue Rekordhöhen; die Zahl der Übernahmeinteressierten stagniert auf einem historischen Tiefstand.
Welche Rolle kann der Kapitalmarkt in der Unternehmensnachfolge spielen?
Binding: Der Kapitalmarkt ist sicherlich eine wichtige Quelle für Finanzierungen. Das „S“ in ESG kann die Brücke sein, langfristige Investoren am Kapitalmarkt zu finden.
Prof. Dr. Becker: Das Finanzsystem ändert sich Schritt für Schritt – weg von einem bankbasierten und hin zu einem kapitalmarktbasierten Finanzsystem. Dies wird langfristig die Unternehmensnachfolgefinanzierung beeinflussen. Dadurch verschärfen sich die massiven Interessenkonflikte in Bezug auf kurzfristige Renditeerwartung versus langfristige Interessen des Unternehmers.
Welche Vorteile bieten Kapitalmarktinstrumente wie Aktien- oder Anleiheemissionen im Vergleich zu klassischen Finanzierungsmethoden für die Nachfolge?
Binding: Der Kapitalmarkt bietet ein höheres verfügbares Kapital. Rein finanzielle, aber auch strategische Investoren können gleichsam angesprochen werden.
Prof. Dr. Becker: Während bei Banken im Wesentlichen das Eigenkapital der Banken als Risikopuffer zur Verfügung steht, ist das risikoabsorbierende Kapital im Kapitalmarkt ungleich größer. Risiko und Rendite können leichter maßgeschneidert auf verschiedene Investoren verteilt werden als bei einer Bankfinanzierung. Diesen Vorteilen steht allerdings eine beachtliche Liste gravierender Nachteile entgegen. ESG kann eine Brücke bilden, die aber erst noch gebaut werden muss. Grundlage dafür ist die Einsichtsfähigkeit des Kapitalmarkts.
Gibt es spezielle Anforderungen oder Voraussetzungen für mittelständische Unternehmen, um Kapitalmarktlösungen für ihre Nachfolge zu nutzen?
Binding: Die bestehenden Prozesse müssen teils erheblich angepasst werden, um den Anforderungen des Kapitalmarkts zu entsprechen. Für das S (Social) in ESG (Environmental, Social, Governance) müssen die KPIs definiert und die Governance übernommen werden.
Prof. Dr. Becker: Eine Standardisierung der Prozesse ist essenziell, da große Investoren oft nicht die Kapazitäten haben, sich mit den individuellen Unterschieden mittelständischer Unternehmen im Detail zu befassen. ESG kann hier als Rahmenwerk dienen. Aber eine befriedigende soziale Komponente müsste zunächst in Kooperation mit den Mittelstandsvertretungen entwickelt werden.
Unternehmer befürchten den Verlust der Kontrolle oder Einbußen in der Unternehmensführung. Wie kann eine Kapitalmarktoption gestaltet werden, um diesen Bedenken entgegenzuwirken?
Binding: Es gibt erprobte Unternehmensformen, die beides ermöglichen: Investition und bleibende Kontrolle. Die Kommanditgesellschaft auf Aktien ermöglicht zum Beispiel eine Verknüpfung zum Kapitalmarkt bei weiterhin deutlicher Prägung durch den Unternehmer.
Prof. Dr. Becker: Es ist wichtig, dass die Prägung durch einen externen Nachfolger aufrechterhalten werden kann. Aber selbst dann ist eine enge Verbindung von globalem Kapitalmarkt und deutschem Mittelstand für die Gesellschaft äußerst riskant. Es gibt empirische Indizien dafür, dass die Machtkonzentration im Kapitalmarkt bereits heute wettbewerbsverzerrende Ausmaße angenommen hat. Wenn hinter formal konkurrierenden Unternehmen überall de facto die gleichen Fonds als Eigentümer oder Kreditgeber stehen, dann wird das sicherlich das Wettbewerbsverhalten beeinflussen. Als Minimum muss die Kontrolle bei der Unternehmensführung bleiben, etwa in Form von stimmrechtslosen Aktien, Arbeitsplatzgarantien et cetera als Parameter des „S“ in ESG. Für Assetmanager bindende Obergrenzen für ihr Beteiligungsvolumen am deutschen Mittelstand wären noch besser.
In welchen Fällen kann eine Mehrheits- oder Minderheitsbeteiligung von Private-Equity-Investoren eine Lösung sein?
Binding: Mehrheitsbeteiligungen erfordern ein gewisses Maß an Kooperation zwischen den beiden Parteien, um die Unternehmerprägung und die Interessen der Fondsinvestoren anzugleichen. Auch hier kann das „S“ im ESG helfen.
Prof. Dr. Becker: Jedoch will dieses „S“ erst befriedigend definiert werden. Der Kapitalmarkt agiert deutlich prozyklischer als Banken. Boom und Krise sind beim Kapitalmarkt noch einmal deutlicher ausgeprägt. Wenn Sie mit den offensichtlichen Gefahren einverstanden sind, können Sie das natürlich positiv sehen: Es eröffnet Möglichkeiten.
Welche Risiken sind mit einer Kapitalmarktstrategie verbunden, und wie können Unternehmer diese Risiken minimieren?
Binding: Die Unternehmerprägung ist die Seele des Unternehmens. Gegebenenfalls sind Investoren – je nach Art des Investors – hieran weniger interessiert. Der Fokus S kann die Interessen beider Parteien angleichen, sodass gegebenenfalls bestehende Interessenrisiken ausgeglichen werden können.
Prof. Dr. Becker: Der Finanzmarkt ist sehr gut darin, Risiko und Rendite einzuschätzen. Bei der Kontrolle ist es schon schwieriger, und manche institutionellen Investoren erwecken den Eindruck, dass sie an der Unternehmenskontrolle auch wenig Interesse haben. Assetmanager indes vermitteln den Anlegern häufig nur finanzielle Risiken und Renditen, behalten die Stimmrechte aber für sich. Die Moral von der Geschichte: Bei der Bewertung von Risiko und Rendite des Unternehmens müssen die Unternehmer genau hinschauen, und das wissen sie auch. Aber bei der Bewertung des Rechts der Unternehmenskontrolle noch mehr − da besteht aus offensichtlichen Gründen erheblicher Verhandlungsspielraum.
Wie wichtig ist die Beratung und Vorbereitung für Unternehmer, die sich für den Kapitalmarkt als Nachfolgelösung interessieren?
Prof. Dr. Becker: Eine Analyse des Unternehmens ist unablässig, um den Status quo zu bestimmen, um den Marktwert, die finanziellen Risiken sowie die faire erwartete Rendite für Investoren einzuschätzen.
Binding: Flankiert von einer rechtlichen und steuerlichen Standortbestimmung. Der Begriff „Probesterben“ passt hierzu gut.
Herr Binding, Herr Prof. Dr. Becker, wir danken Ihnen für diese interessanten Einblicke!
ZU DEN INTERVIEWPARTNERN
Prof. Dr. Christoph Becker ist seit 2015 Professor für Finanzmathematik an der Hochschule Darmstadt. Seine Forschungsinteressen sind Risikomanagement und Stabilität des Banken- und des Schattenbankensystems, die Weiterentwicklung des Finanzsystems zur Finanzierung der Energiewende sowie Finanzmarktökonometrie.
https://h-da.de/
Jens Binding ist Partner bei Grant Thornton Germany. Er berät seit 2008 an der Schnittstelle von Finanzinstrumenten und Anlegern, insbesondere Private Clients, Family Offices und Pensionsvermögen.
www.grantthornton.de
Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.