Die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben gezeigt, wie wichtig die Resilienz von Lieferketten weiterhin ist. Entsprechend gewinnt Nearshoring, die Verlagerung betrieblicher Aktivitäten und Zulieferbeziehungen ins Heimatland oder nahegelegene Ausland, an strategischer Bedeutung. Gleichzeitig verlagern Großunternehmen immer mehr auch hochwertige Bestandteile ihrer Wertschöpfungskette an Drittunternehmen aus. Diese beiden Entwicklungen stellen für hiesige Mittelständler erhebliche Chancen dar. Wir sprachen darüber mit dem M&A-Experten Dr. Andreas Bonnard, Managing Partner von Marktlink in München.
Unternehmeredition: Die internationalen Lieferketten sind nach wie vor stark in Mitleidenschaft gezogen. Wie können diese widerstandsfähiger gemacht werden?
Dr. Andreas Bonnard: Die Resilienz der Wirtschaft und insbesondere der Lieferketten ist eines der Hauptthemen in Unternehmen. Dies kann man am besten durch Diversifizierung der Wertschöpfung sowie durch Redundanz der Produktionsstätten und Lieferbeziehungen erreichen. Gleichzeitig müssen Unternehmen in der Lage sein, flexibel und schnell reagieren zu können. Nearshoring und weiteres Outsourcing sowie das Einbeziehen von externen Dienstleistern in die Wertschöpfungskette sind die passenden Antworten auf die derzeitigen wirtschaftlichen Herausforderungen. Für deutsche Mittelständler ergeben sich hieraus enorme Wachstumschancen. Wachstum durch Zukäufe aber auch Wachstum durch Einklinken in die Wertschöpfungskette von Großkonzernen, die ihre Wertschöpfungstiefe verringern wollen, Übernahmen von Carve-outs, die nicht mehr ins Portfolio von Großkonzernen passen, etc.
Sollte der deutsche Mittelstand jetzt also verstärkt auf Reshoring/Nearshoring und erhöhte Lagerhaltung setzen? Was spricht dafür, was dagegen?
Aus meiner Sicht sind Reshoring und Nearshoring das Gebot der Stunde. Das erhöht zwar die Komplexität und kostet Marge, bringt jedoch Widerstandsfähigkeit. Erhöhte Lagerhaltung sehe ich nicht als notwendig an und würde ich auch nicht unbedingt empfehlen. Vielmehr bedarf es einer intelligenten und flexiblen Steuerung der Bestände, was Mengen aber auch Lagerorte betrifft. Diese Herausforderungen werden Unternehmen in Mitteleuropa aber leicht stemmen können.
Könnte nicht die Gefahr drohen, dass man abgehängt wird, wenn zu einseitig auf Re- und Nearshoring gesetzt wird?
Produktionsstandorte in geopolitisch angespannten Situationen sollten nicht per se aufgegeben werden. Sie sollten jedoch mit redundanten Produktionsstätten an Nearshore-Standorten unterfüttert werden. Die letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig ein Plan B ist.
Sollte man nicht lieber nur stärker international diversifizieren? Und geht es überhaupt um ein entweder, oder?
Ja, die internationale Diversifikation ist ebenfalls erforderlich. Ein Entweder-oder ist es leider nicht, sondern ein Sowohl-als-auch. Strategen und Risikomanager müssen die eigene Aufstellung kritisch hinterfragen. Um Resilienzen zu verbessern und einen Gau zu verhindern, müssen sämtliche Optionen überprüft werden.
Inwieweit ist eine stärkere Rückbesinnung auf die europäischen Nachbarländer und auf heimische Bezugsquellen überhaupt machbar? Wo stehen wir hier und was ist aus Ihrer Sicht derzeit möglich?
Die Kostenstrukturen in Westeuropa sind sicher eine sehr große Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig erlauben jedoch konsequente Digitalisierung und die Nutzung von künstlicher Intelligenz die Kostenstrukturen deutlich zu senken. Die Techtrends der Stunde bergen großartige Chancen – gerade für Europa und Nordamerika. In Summe können gegebenenfalls sogar die aktuellen Gewinnmargen beibehalten werden. Wir sehen in vielen Staaten bedeutende Initiativen, um Wirtschaft im eigenen Land anzusiedeln. Diese Incentives tragen durchaus Früchte – man blicke aktuell in die USA.
Welche Branchen sind hier im Vorteil, welche im Nachteil?
Im Vorteil sind sicher Dienstleistungsunternehmen und solche Produktionsunternehmen, die bereits heute ihre Wertschöpfungstiefe deutlich abgeflacht haben. Ich denke, dass dieser Trend des Outsourcings von immer mehr Elementen der Wertschöpfungskette anhalten wird. Im Nachteil sind Branchen wie zum Beispiel die Schwerindustrie, bei denen eine Verlagerung der Produktion nur mit sehr hohen Kosten und sehr langen Vorlaufzeiten möglich ist.
Ist auf der anderen Seite Offshoring überhaupt noch attraktiv? Sind beispielsweise günstigere Lohnkosten oder die Nähe zum Kunden überhaupt noch Argumente?
Pauschal kann man diese Frage nicht beantworten. Es wird Produktionsschritte geben, die Offshoring benötigen, um wettbewerbsfähig zu sein beziehungsweise zu bleiben. Andere Produktionsschritte können aufgrund der weiteren Möglichkeiten der Automatisierung, der Digitalisierung und dank Künstlicher Intelligenz auch in vermeintlichen Hochlohnländern durchaus wettbewerbsfähig hergestellt werden. Die richtige Mischung macht es. Hinzu kommt außerdem die Fähigkeit, dieses Produktionsnetz flexibel und intelligent zu organisieren.
Bei einigen wichtigen Rohstoffen (z.B. seltene Erden) sind wir noch sehr stark auf den Bezug aus fernen Ländern (v.a. Asien) angewiesen. Was muss passieren, um unsere einseitigen Abhängigkeiten zu drosseln?
Hier gibt es in vielen Bereichen Initiativen, den Bedarf kritischer Rohstoffe zu reduzieren. Etwa im Bereich der Batterien für die E-Mobilität. Neue Zellchemien und Packaging-Innovationen treiben den Wandel voran. Außerdem wird Recycling eine immer wichtigere Rolle spielen. Hier bestehen und entstehen weiterhin vielversprechende Potentiale, die es auszuschöpfen gilt.
Welche Investitionen sind dafür in den nächsten Jahren notwendig?
Hier müssen technologischer Fortschritt und Recycling-Ambitionen Hand in Hand gehen.
Wie kann die Politik hier unterstützen? Und sollte sich der Staat einmischen, z.B. indem er Handels- und Investitionsbeschränkungen für autokratische Systeme und Erleichterungen für die europäische und inländische Wirtschaft einführt?
Amerika macht es wieder einmal vor. Ich denke, dass wir uns in Deutschland und in Europa von der amerikanischen Wirtschaftspolitik eine Scheibe abschneiden können.
Wie beurteilen Sie den Fall Viessmann? Hätte das Unternehmen besser einen anderen Weg wählen sollen?
Ich sehe als M&A-Mann zunächst schlicht ein sehr erfolgreiches Familienunternehmen, das einen bedeutenden Teil seines Unternehmens zu einem Zeitpunkt verkauft hat, als das Thema für strategische Investoren besonders attraktiv war. Dazu muss man sagen: Glückwunsch und Chapeau.
Das Unternehmen hat damit außerdem Mittel zur Verfügung, die eine strategische Neuausrichtung in ein sehr attraktives und stark wachsendes Geschäftssegment finanzieren. Hieraus einen Abgesang auf den Standort Deutschland zu machen, finde ich verfehlt.
Dr. Bonnard, wir danken Ihnen für dieses interessante Gespräch!
ZUR PERSON
Dr. Andreas Bonnard ist Managing Partner im Münchner Büro von Marktlink. Er bringt mehr als 25 Jahre Erfahrung aus Industrie, Beratung, Restrukturierung, M&A und Corporate Finance mit. Als Partner in Big 4 und Top Strategie- und Restrukturierungsberatungsfirmen hat er global führende Kunden in Europa, in Nord- und Südamerika, in Nordafrika Middle East sowie in Asia Pacific bedient. Während seiner Karriere hat er zudem tiefe und breite Erfahrung in verschiedenen Industrien gesammelt, so beispielsweise in den Bereichen Transportation, Aviation & Logistics, Automotive, Pharmaceuticals, Healthcare, Consumer Goods, Retail und Real Estate sowie im Anlagen- und Maschinenbau.
Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.