Es war schon ein ganz besonderes Timing: Ein Tag nachdem sich der Vorstand der Volkswagen AG vor aufgebrachten Gewerkschaftsmitgliedern bei einer Betriebsversammlung für ihren Sparkurs rechtfertigen musste, trafen sich im benachbarten Hannover Experten für Restrukturierung der Automobilbranche. Bereits zum sechsten Mal lud die Hannoveraner Kanzlei von Schultze & Braun zur autorecon-Konferenz ein. Insolvenzverwalter, Restrukturierungsberater, Bankenvertreter, Warenkreditversicherer sowie Führungskräfte aus dem Automotive-Sektor diskutierten über die aktuelle Lage in der Branche.
Die „Welle“ kam einfach nicht
Patrick Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei der Creditreform gab in seiner Präsentation einen allgemeinen Überblick über die aktuelle Entwicklung der Insolvenzfälle und die zu erwartenden Zahlen. Er habe seit vier Jahren vor einer Welle gewarnt – wie so viele andere – aber die Welle sei einfach nicht gekommen. Auch jetzt sei eine pauschale Aussage sehr schwierig – aber in einige Branchen gebe es schon außergewöhnliche Zuwächse bei den Insolvenzanträgen. Als einen Indikator für ein Gesamtproblem in der deutschen Industrie wertete Hantzsch die Probleme in der Zeitarbeitsbranche. Die Umsätze seien in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen, was auf einen Rückgang der Produktion schließen lässt. Bei der gerade stattfindenden Entwicklung der Fallzahlen könne man auch von einer Normalisierung sprechen, da die in den Jahren 2002 bis 2008 die Zahl der Unternehmensinsolvenzen bei über 30.000 oder mehr Fällen lag. Von den Zahlen dieser „Welle“ ist man derzeit aber noch weit entfernt.
Nach Ansicht von Hantzsch hilft es in der aktuellen Situation aber nicht, nur die reinen Fallzahlen miteinander zu vergleichen. Als Grund nennt er die deutlich zunehmenden Schäden durch Insolvenzen seit 2022. Sowohl bei den offenen Forderungen der Gläubiger als auch bei den betroffenen Arbeitsplätzen gehe es steil nach oben. Und gerade Insolvenzen von Großunternehmen würden auch erhebliche Auswirkungen auf andere Firmen haben, die sich mit ihnen in Geschäftsbeziehungen befinden. „Die heutigen Insolvenzen richten nach unseren Analysen erheblich mehr Schaden an als noch in den Jahren der Finanzkrise“, erklärt Hantzsch. Zudem müsse man auch beachten, dass jede Insolvenz von durchschnittlich 14 bis 15 mehr oder weniger freiwilligen Schließungen von Firmen begleitet würden.
Mehr Eigenkapital wegen Investitionsstau
Hantzsch gab auch einen Ausblick in die Zukunft. Zu sehr ins Detail durfte er dabei nicht gehen, denn die neuen offiziellen Zahlen von Creditreform über die Zahl der Pleiten werden erst noch herausgegeben. Er prognostiziert aber einen weiteren – durchaus spürbaren – Anstieg der Fallzahlen. Und er lenkte auch den Blick auf einen weiteren Aspekt für die Zukunftsaussichten: Die Ausstattung der Unternehmen mit Eigenkapital in Deutschland wird besser. Eigentlich sollte das eine gute Nachricht sein – aber das stimmt so leider nicht. Die bessere Kapitalausstattung sei vor allem darauf zurückzuführen, dass weniger investiert wird. Und ausbleibende Investitionen bedeuten auf lange Sicht einen technologischen Rückstand. Eine Abwärtsspirale setzt sich so in Gang. „Die Stimmung ist schlecht und die Erwartungen sind auch schlecht“, fasst Hantzsch zusammen.
Dass die Lage eher angespannt sei, stellt auch Tobias Hartwig, von der veranstaltenden Kanzlei Schultze & Braun fest: „An den beiden Standorten von Schultze & Braun in Braunschweig und Hannover, die ich leite, erhalten wir sehr viele Anfragen und Aufträge – für gerichtliche Sanierungen, aber auch von Unternehmen, die rechtliche Beratung im Zusammenhang mit einer eigenen Krisensituation, aber auch zur Krise oder sogar Insolvenz eines Geschäftspartners benötigen. Die Anfragen und Aufträge kommen dabei branchenübergreifend von bestehenden, aber auch von neuen Mandanten.“ Von A wie Automobilzulieferer bis Z wie Zahnarzt sei im Prinzip jede Branche vertreten, was auch zeige, wie breit die aktuellen Herausforderungen die Wirtschaft betreffen.
Deloitte-Studie gibt einen Einblick in die Branche
Einen Deep Dive in die konjunkturelle Lage der Automobil-Zulieferindustrie gaben Dr. Philipp Kinzler und Daniel Montanus. Beide präsentierten ein aktuelles Update zum „Supplier Risk Monitor“ von Deloitte, der alle zwei Jahre erscheint. Für diese intensive Analyse sind weltweit 855 Zulieferer in Beobachtung – kategorisiert nach 19 Clustern für unterschiedliche Zuliefererkomponenten. Eine der wichtigsten Aussagen war der deutliche Unterschied der EBIT-Marge zwischen OEMs mit rund 9% und den Zulieferern mit knapp 5%. Die Autokonzerne verdienen also aktuell knapp doppelt so viel wie ihre Zulieferer. Zudem hat sich die Marge der Autokonzerne nach Corona deutlich erholt – die Werte bei den Zulieferern änderten sich wenig.
Auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat eine in dieser Woche neue Einschätzung zur Situation gegeben. Im Jahr 2018 löste demnach China die Bundesrepublik als wichtigsten Produktionsstandort der deutschen Autoindustrie ab. Zur Jahrtausendwende hatte China nur rund zwei Millionen Kraftfahrzeuge produziert, im vergangenen Jahr seien es mehr als 30 Millionen gewesen. Der Export von Autos werde zunehmend durch Zölle erschwert. Das bedrohe ein wichtiges Geschäftsfeld der deutschen Autoindustrie: Hierzulande würden die deutschen Hersteller gerade einmal 13% ihrer Produktion verkaufen. In Deutschland würden die Produzenten von energieintensiven Grundstoffen wie Aluminium und Stahl bis zu 15% mehr für Energie als Wettbewerber in den USA oder in China bezahlen – ein weiterer Wettbewerbsnachteil. „Die Transformation muss gelingen, sonst wird die Autoindustrie am Standort Deutschland in den kommenden Jahren weiter schrumpfen. Wenn die Politik die Produktion und den Absatz von E-Autos in Deutschland fördern will, braucht es zudem dringend Investitionen in den Ausbau der öffentlichen Ladeinfrastruktur. Andernfalls bleibt die Nachfrage niedrig“, sagt IW-Studienautor Thomas Puls.
Kleine Unternehmen verdienen schlechter
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Studie „Supplier Risk Monitor“ war der Unterschied zwischen großen und kleinen Zulieferunternehmen. Deloitte zieht hier eine Linie bei 750 Mio. EUR Umsatz pro Jahr. Bei den kleineren Unternehmen sind die Werte für die EBIT-Marge noch schlechter. Sie leiden also noch mehr unter den aktuell schwierigen Branchenbedingungen. Beim Blick auf die verschiedenen Kontinente zeigt sich nach der Analyse von Deloitte zudem, dass die Situation in Europa besonders schlecht ist. Hier sind die Margen unterdurchschnittlich und auch die Absatzerwartungen für die kommenden Jahre liegen deutlich unter den Werten von Asien und Amerika. Für Europa prognostiziert Deloitte eine Fahrzeugproduktion im Jahr 2026 auf einem Niveau von rund 90% des Jahres 2019. In Asien liegt dieser Wert bei 114% und in den USA bei 102%. Keine wirklich guten Aussichten also für die Zukunft der europäischen Automotive-Branche.
Die Prognosen sehen nicht gut aus
Die aktualisierte Studie rechnet mit weiter steigenden Einkaufspreisen oder zumindest einem Verbleib dieser Kosten auf vergleichsweise hohem Niveau. In Osteuropa würden die Arbeitskosten stärker steigen – was sich auch besonders auf die europäischen Zulieferer auswirken werde. Als weitere schlechte Nachricht zeigten Dr. Philipp Kinzler und Daniel Montanus auf, dass derzeit die Bereitschaft von Banken sinkt, sich an Finanzierungen im Automotive-Sektor zu beteiligen. Zudem dürfe auch nicht vergessen werden, dass die allgemein schlechte Stimmung der Branche auch dafür sorgen werde, dass sich weniger hochqualifizierte Bewerber für Automotive begeistern lassen.
Ist die Krise selbstverschuldet?
Wie hat sich nun dieser Sektor in diese Lage gebracht? Ist das selbstverschuldet? „Die Krise in der Automobilbranche wird aus meiner Sicht durch externe Faktoren hervorgerufen, die politisch bedingt sind, und ist nicht hausgemacht. Der Wechsel zur E-Mobilität, der meiner Meinung nach zu schnell und zu gewollt ist, sorgt dafür, dass bestehende Erfolgsmodelle nicht mehr funktionsfähig sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Verbraucher noch nicht bereit für einen flächendeckenden Wechsel zur E-Mobilität sind und sich die Fahrzeuge auch schlicht nicht leisten können“, meint dazu Tobias Hartwig, von Schultze & Braun. Hinzu komme, dass die Unternehmen der Automobilbranche – Hersteller und Zulieferer – durch überbordende Bürokratie und hohe Energiepreise über Gebühr belastet würden. Das mache eine rechtzeitige Reaktion schwierig.
Wie kann der Sektor reagieren?
Als Möglichkeit für eine Ausweg aus der Krise definieren die Sanierungsexperten von Deloitte die Verhandlung der Preisniveaus. Hier müsse in der Kommunikation mit den Auftraggebern entsprechend gehandelt werden. Weiterhin müsse im Bereich des Overheads im Unternehmen gehandelt werden, um hier die eigenen Kosten weiter zu senken. Auch in den Bereichen Cash- und Working-Capital-Management sollte möglichst weiter optimiert werden, um die eigene Position zu verbessern. In vielen Gespräche mit Kunden würde man aber auch erleben, dass die Unternehmen den dritten Schritt vor dem ersten machen möchten.
Gläubiger haben wenig Einfluss
Thomas Harbrecht vom Kreditversicherer Allianz Trade gab aus Gläubigersicht einen Einblick in die aktuelleren Insolvenzverfahren im Automotive-Sektor. Insgesamt habe man als Gläubiger recht wenig Einfluss auf die Abläufe. Er habe auch erlebt, dass bei einigen Verfahren die Vorbereitungen vor der Antragsstellung schon sehr weit fortgeschritten seien. Dies mache eine Mitarbeit und die Wahrung der eigenen Interessen dann schwierig. Insgesamt habe er in den vergangenen Monaten den Eindruck gesammelt, dass Unternehmensverkäufe aus einer Insolvenz in der Automotive-Branche sehr schwierig seien. Entscheidend für eine Sanierung sei immer, dass mit den Kunden möglichst lange Liefervereinbarungen getroffen werden. Den Abschluss der diesjährigen Autorecon bildete ein Einblick von Rüdiger Bauch von Schultze & Braun in den anstehenden Wandel im Autohandel.
Als Redakteur der Unternehmeredition berichtet Alexander Görbing regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Zu seinen Schwerpunkten gehören dabei Restrukturierungen, M&A-Prozesse, Finanzierungen sowie Tech-Startups.