„Im aktuellen Umfeld wird sich auch der M&A-Markt abkühlen“

Interview mit Wilhelm Mickerts, M&A-Experte und Partner der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Grant Thornton

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Nach dem Rekordjahr 2021 zeichnen sich am M&A-Markt bereits erste Anzeichen für eine Abkühlung ab. Diese betrifft jedoch nicht alle Player und alle Branchen gleichermaßen. Wie stark die Abkühlung insgesamt tatsächlich ausfallen wird, hängt wesentlich davon ab, wie sich die geopolitischen Rahmenbedingungen in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln werden. Wir sprachen mit dem M&A-Experten Wilhelm Mickerts über die aktuellen Trends.

Unternehmeredition: Herr Mickerts, nach dem Rekordjahr 2021 – wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung am M&A-Markt im laufenden Jahr 2022?

Wilhelm Mickerts: Der M&A-Markt befand sich gemessen an der Anzahl und dem Wert der Transaktionen im ersten Halbjahr noch auf einem insgesamt sehr hohen Niveau, obgleich im zweiten Quartal bereits erste Anzeichen für eine Abkühlung zu erkennen waren. Die geopolitischen Rahmenbedingungen, namentlich der Ukrainekrieg, die Lockdowns in Teilen Chinas mit ihren  Auswirkungen auf die Lieferketten, die signifikanten Materialpreis-steigerungen und insbesondere die rasant steigenden Energiekosten haben zu einer schnell ansteigenden Inflationsrate geführt, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Hinzu kommt ein steigendes Zinsniveau der Zentralbanken. All diese Faktoren zusammen haben zu einer Verunsicherung bei Unternehmen und Verbrauchern geführt.

Wie wirkt sich diese Verunsicherung auf das Verhalten der Marktteilnehmer aus?

Die Käufer agieren deutlich vorsichtiger. Marktrisiken im Zuge der genannten externen Faktoren werden bereits im Vorfeld einer Transaktion stärker antizipiert und in der Due Diligence-Phase schwerpunktmäßig analysiert. Auch Exits werden zunehmend anspruchsvoller, da Bewertungen stärker hinterfragt werden. Die Verkäufer versuchen die Risikofaktoren daher schon in den Verkaufsunterlagen zu adressieren und proaktiv Lösungen zur Risikominderung aufzuzeigen, damit diese nicht zu sehr Einfluss in der Bewertung finden.

Auch die Finanzierungspartner werden vorsichtiger und wir werden auch wieder einen stärkeren Einsatz von Covenants sehen. Generell werden Lieferengpässe dazu führen, dass Markteilnehmer eher dazu tendieren, sich regionaler aufzustellen („Nearshoring“) und die Supply Chain durch Transaktionen wieder stärker zu integrieren.

Was bedeutet das für die Dynamik am M&A-Markt?

In einem solchen Umfeld wird sich auch der M&A-Markt abkühlen. Inzwischen werden vereinzelt laufende Transaktionen abgesagt beziehungsweise auf Eis gelegt. Transaktionen werden noch gründlicher im Hinblick auf die Auswirkungen der oben beschriebenen Faktoren auf die Geschäftsentwicklung im laufenden Jahr und in den kommenden zwölf bis 18 Monaten abgeklopft.

Professionelle M&A-Player wie Finanzinvestoren und größere Unternehmen mit einem regelmäßigen Deal Flow werden weiterhin im Markt aktiv sein, allerdings vermutlich umsichtiger agieren. Spieler, die bislang keine größere Transaktionserfahrung haben, werden sich in den kommenden Monaten nur noch sehr bedacht in die raueren Gewässer wagen.

Wie stark die Bremsspuren sein werden, hängt wesentlich davon ab, wie sich die kommenden Wochen und Monate entwickeln werden. Kommt es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine, bekommen wir die Energieversorgung für den nächsten Winter in den Griff und werden die Lieferketten wieder störungsfrei arbeiten, kann die Inflation gestoppt und umgekehrt werden. Dann wird auch der M&A-Markt wieder an Dynamik gewinnen.

Die Unternehmen stehen unter immensem Transformationsdruck (Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Steigerung der Innovationsfähigkeit für mehr Wettbewerbsfähigkeit) – ist M&A da ein hilfreiches Instrument?

Auf jeden Fall spielt die Transformation in den Bereichen Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Innovationsfähigkeit eine große Rolle. Wir sehen beispielsweise im Automotivesektor Verkäufe im Bereich der Verbrennungsmotoren, deren Zeit − jedenfalls in der EU − zu Ende gehen wird. Auf der anderen Seite investieren Automobilhersteller und -zulieferer in Bereiche rund um das autonome Fahren. Hier ist M&A − neben der eigenen Forschung- und Entwicklung − ein probates Mittel, die notwendige Transformation zu unterstützen.

Was ist unter den derzeitigen Voraussetzungen zu beachten?

Zu beachten sind insbesondere die Auswirkungen der starken Preissteigerungen für Rohstoffe und Energie. Dadurch sinken Indikatoren wie die Rohertrags- und die EBITDA-Marge deutlich, da die Preiserhöhungen nicht 1:1 beziehungsweise nur zeitverzögert an die Kunden weitergegeben werden können („pass-through“). Zwar haben sich hier viele Unternehmen über langfristige Verträge für einen bestimmten Zeitraum abgesichert, allerdings ist unklar, ob die Energieversorger und Lieferanten die entsprechenden Vertragskonditionen überhaupt erfüllen können, ohne sich dabei selbst substanziell zu gefährden.

Daher ist als Käufer eine ausführliche Risikoplanung und eine damit verbundene nachhaltige EBITDA-Analyse unter verschiedenen Szenarien notwendig, um hier böse Überraschungen zu vermeiden. Auf der Finanzierungsseite ist zu beachten, dass die Kosten der Kapitalaufnahme für Unternehmen und institutionelle Investoren durch die Geldpolitik der Zentralbanken deutlich steigen werden.

Vereinfachen und beschleunigen virtuelle M&A-Prozesse das Transaktionsgeschehen?

Wir stehen hier erst am Anfang einer umfassenden Bewegung. Die letzte große Innovation, der virtuelle Datenraum, ist schon 20 Jahre her. Die Coronapandemie hat den Wandel beschleunigt und so sind auch die letzten physischen Bestandteile der M&A-Aktivitäten gezwungenermaßen in die virtuelle Welt umgezogen. Dies hat zur Folge, dass deutlich weniger Zeit für Reisetätigkeiten und die Organisation von persönlichen Treffen aufgewendet werden muss, was bereits eine beschleunigende und Transaktionskosten senkende Wirkung hat. Weiterhin hat der Einsatz intelligenter Analysetools in der Due Diligence Phase nicht nur zu Effizienzsteigerungen geführt, sondern auch die Qualität der Analysen erheblich gesteigert. Zusammen mit der Präsentation der Ergebnisse mittels eines interaktiven Dashboards, hat der Mehrwert für die Adressaten − Käufer wie Verkäufer − enorm zugenommen. Die Zeit- und Kostenersparnis kann sinnvoll in die Unterstützung der weiteren Prozessschritte, etwa die Verhandlungen, investiert werden.

Künftig werden wir in den frühen Phasen einer Transaktion, beispielsweise der Deal Origination, einen verstärkten Einsatz von digitalen Tools sehen.

Spannend wird es sein, ob auch die Signing-Prozesse (notarielle Beurkundungen) zukünftig in einer virtuellen Umgebung stattfinden können und damit die letzte physische Hürde überwunden werden kann.

Profitiert Cross-Border M&A davon?

Ja absolut, Cross-Border-M&A ist einer der größten Profiteure der zunehmenden Digitalisierung von M&A-Prozessen. Bisher existierten hier teils sehr hohe organisatorische und logistische Barrieren, welche die M&A-Prozesse verlangsamt haben. Der neue Status Quo der Cross-Border-M&A-Branche weist deutlich reduzierte Reise- und Besichtigungstätigkeiten auf. Virtuelle Prozesse vergrößern sowohl das Käuferuniversum als auch die Targetgruppen aus Investoren- und Unternehmenssicht. Der Umfang der Informationsflüsse erhöht einerseits die Sichtbarkeit, führt aber andererseits zu einem Überangebot, welches mittels gezielter Analyse gefiltert werden muss.

Ist die hohe Geldmenge bei Private-Equity-Investoren weiter Treiber für Transaktionen?

Finanzinvestoren verfügen nach wie vor über eine große Menge an „Dry Powder“. Allerdings wird sich vermutlich eine Abschichtung je nach Industrie zeigen. Attraktive Industrien mit robusten Geschäftsmodellen und stabilen Cash-Flows (z.B. Infrastruktur) werden weiterhin eine hohe Transaktionsaktivität sehen. In anderen Industrien wird die Anzahl zurückgehen. Zusätzlich kann man von längeren Haltedauern von Beteiligungen ausgehen, aufgrund des zunehmenden Fokus der Banken auf die Erfüllung nachhaltiger Finanzierungskriterien. Nach wie vor ist  zu beachten, dass kleine wie große institutionellen PE-Investoren anteilig Fremdfinanzierung in Anspruch nehmen und daher von geldmarktpolitischen Entscheidungen der Zentralbanken ebenfalls betroffen sind. Die genauen Auswirkungen bleiben abzuwarten.

Was tut sich bei der Unternehmensbewertung? Rechnen Sie mit sinkenden Preisen?

In den letzten Wochen haben sich die fundamentalen Parameter, die in eine Bewertung einfließen, deutlich verändert. Dies wird sich kurz- und mittelfristig auch in den Kaufpreisen widerspiegeln. Allerdings vermutlich auch hier abgestuft nach Industrien. Hochwertige Targets werden auch weiterhin gute Preise erzielen.

Welche Rolle spielen ESG-Kriterien bei Verkaufsprozessen?

ESG-Kriterien werden immer wichtiger in Verkaufsprozessen. Viele Investment-Fonds haben sich auf die Fahnen geschrieben, künftig nur noch in nachhaltige Unternehmen zu investieren. Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass gelebte Nachhaltigkeit zu einer besseren Marken- und Kostenposition führt. Es gibt mittlerweile auch Diskussionen, ob Unternehmen ohne substanzielle ESG-Strategie überhaupt eine Zukunftsberechtigung (im Sinne einer ewigen Rente) haben. Insofern ist die Transformation hin zu einem nachhaltigen, ESG-konformen Unternehmen nicht nur ein Hygienefaktor, sondern ein primärer Werttreiber.

Ist mit einer Welle von Distressed M&A zu rechnen?

Die anhaltenden Krisenherde und damit einhergehende Geschäftseintrübung führten seit dem Jahr 2020 bis heute zu einer fortwährenden Auflegung staatlicher Förderprogramme. Die umfassende Inanspruchnahme seitens der betroffenen Unternehmen hat hohe Verschuldungsgrade über die einzelnen Branchen hinweg zur Folge. Die anhaltenden Verluste haben das Eigenkapital vor allem mittelständischer Unternehmen verzehrt. Dadurch werden die Konditionen zukünftiger Finanzierungen erheblich beeinflusst und das Going Concern der Unternehmen ohne zusätzliches Eigenkapital gefährdet.

Demgegenüber werden durch die Transformation im Automotivesektor komplette Branchenzweige obsolet oder die betroffenen Akteure müssen ihr Geschäftsmodell neu erfinden. Dies wird durch die aktuelle Energiekrise infolge des Ukrainekrieges und der damit einhergehenden Stilllegung von Fabriken weiter verschärft. Weiterhin intensivieren sich die Probleme in den Lieferketten bei fokussierten Zulieferbetrieben, was die Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit erschwert und letztlich zu einem höheren Insolvenzrisiko führt.

Zusätzlich wurde der Handlungsspielraum für Fremdfinanzierer im Umgang mit NPLs (Non Performing Loans) durch die europäische Bankenaufsicht stark eingeschränkt. NPLs im Bankenportfolio müssen mit hartem Eigenkapital hinterlegt werden. Das Kapital steht somit für gesunde Unternehmen nicht mehr zur Verfügung. Banken werden daher schneller ihre Engagements verkaufen und einen Sanierungsprozess vermeiden.

All diese Entwicklungen werden zu einer Zunahme der Distressed M&A-Transaktionen führen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass durch rechtliche Entwicklungen neue Möglichkeiten in der Unternehmensrestrukturierung ermöglicht werden. Mit der Einführung des StaRUG (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz) am 1. Januar 2021 ist nunmehr eine Sanierung des Unternehmens ohne Insolvenzverfahren möglich, um Unternehmen eine höhere Gestaltungsmöglichkeit bei der Sanierung nach Vorbild des amerikanischen Chapter 11 Verfahrens oder des britischen Scheme of Arrangement zu geben. Distressed Investoren haben dadurch die Möglichkeit, schneller ans Ziel zu kommen.

Lieber Herr Mickerts, wir danken Ihnen für Ihre wertvollen Einschätzungen.


ZUR PERSON

Wilhelm Mickerts ist Partner und Co-Head Transaction Services Deutschland sowie Mitglied der Geschäftsbereichs-leitung Advisory bei Grant Thornton. Sein Fokus liegt auf Unternehmenstransaktionen im small/mid Cap Bereich, die er seit mehr als 20 Jahren begleitet. In seinem Frankfurter Büro beschäftigt er sich vorwiegend mit Due Diligence-Beratungen und der Begleitung von Verhandlungen.

www.grantthornton.de

Weitere interessante Beiträge zum Themenkomplex “Unternehmensverkauf/M&A” lesen Sie in der aktuellen Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2022.

Autorenprofil

Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.

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