Im aktuellen M&A-Marktbericht 1. Halbjahr 2022 dokumentiert Oaklins 1.408 angekündigte beziehungsweise abgeschlossene Transaktionen mit deutscher Beteiligung. Demnach bewegen wir uns den M&A-Experten zufolge nur 4,6% unter dem Niveau des ersten Halbjahres 2021, dem erfolgreichsten M&A-Halbjahr seit 25 Jahren – und das trotz des Kriegsausbruchs in der Ukraine, einer Verbraucherpreisinflation in Höhe von knapp 8% sowie weiterhin gestörter globaler Lieferketten und Warenströme. Wir haben mit Dr. Florian von Alten, Vorstandsmitglied bei Oaklins Germany, über die Studienergebnisse gesprochen.
Unternehmeredition: Der M&A-Markt zeigt trotz herausfordernder Ereignisse wie des Kriegsausbruchs in der Ukraine, der hohen Inflation und coronabedingter Liefer- und Materialengpässe im ersten Halbjahr 2022 nur einen leichten Rückgang bei den angekündigten beziehungsweise abgeschlossenen Transaktionen (-4,6%) gegenüber dem ersten Halbjahr 2021. Es wurden sogar 12,3% mehr Transaktionen gesehen als im Vor-Corona-H1 2019. Wie ist das zu erklären?
Dr. Florian von Alten: 2021 war das Rekordjahr für M&A-Transaktionen der letzten Dekaden. In den vergangenen 25 Jahren gab es kein einziges Kalenderjahr, in dem so viele Transaktionen mit deutscher Beteiligung abgeschlossen wurden. Belief sich die Anzahl der jährlichen Transaktionen in den Vorjahren der letzten zwei Jahrzehnte im Durchschnitt auf circa 1.800, waren es 2021 über 3.000!
Ein leichter Rückgang gegenüber diesem Boomjahr bedeutet deshalb immer noch eine positive Entwicklung im langfristigen Vergleich. Mit über 1.400 Transaktionen im ersten Halbjahr liegen wir bereits weit über dem Durchschnitt der vergangenen Jahre! Wenn man also 2022 mit dem Vorjahr vergleichen will, sollte man diesen Umständen Rechnung tragen.
Bei Betrachtung der einzelnen Monate ist allerdings zu erkennen, dass im Januar und Februar 2022 die Anzahl der Deals sogar über dem Vergleichszeitraum des Vorjahres lagen und somit auf eine Fortsetzung der M&A-Rallye hoffen ließ. Von Mai bis Juni zeichnete sich jedoch eine deutliche Verlangsamung der Dynamik ab, die ihre Ursachen natürlich im Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar und in den Verunsicherungen im Zusammenhang mit Energie, Inflation und Lieferketten hat.
Was genau sind die Gründe für den Boom 2021?
Die Gründe sind zum einen Nachholeffekte aus dem ersten Coronajahr, zum anderen nach wie vor die überschießende Liquidität bei günstigen Zinssätzen – zumindest bis zum Anfang des zweiten Quartals – und die Tatsache, dass für die zahlreichen großen Investoren kaum eine andere Anlageklasse infrage kommt als Private Equity mit ihren volumenmäßig in die Höhe schießenden Fonds.
Ein wichtiger Treiber des Wachstums sind ferner Nachfolgeregelungen im Mittelstand. Angesichts eines zunehmenden Wettbewerbsdrucks können die Unternehmensinhaber es schlicht nicht zulassen, dass ungeeignete Familienmitglieder die Nachfolge antreten. Sie sehen in einem Unternehmensverkauf eine echte Alternative, um die Zukunft ihres Unternehmens zu sichern. Für viele Vollblutunternehmer ist es einfach schwer vorstellbar, sich nur aus der operativen Führung zurückzuziehen und loszulassen, um einem Fremdgeschäftsführer das Feld zu überlassen, während sie selbst weiterhin das unternehmerische Risiko tragen.
Erstmals seit mehreren Jahren ist der Anteil der Deals mit Finanzinvestoren absolut zurückgegangen – warum?
Hier gilt dasselbe: Wir sehen bei Finanzinvestoren in den letzten Jahren eine stete Zunahme der M&A-Aktivitäten, die mit einem Anteil von 37% am Dealvolumen im ersten Halbjahr 2021 ihren vorläufigen Peak erreichte. Anno 2016 und 2017 lag dieser Anteil noch bei lediglich 19%. Der nunmehr erreichte Anteil von Private Equity-Transaktionen von 29% im laufenden Halbjahr ist aus deutscher Sicht ein hoher Wert, international gesehen hinken wir hier jedoch Ländern wie den USA, England oder Frankreich noch immer hinterher. Allerdings haben Finanzinvestoren sensible Antennen. In Krisenzeiten und Zeiten schwacher Konjunktur schauen sie sich zuallererst ihre Portfolios an und fangen an, zu sondieren und zu entscheiden, wo sie agieren und wo sie gegensteuern müssen. Oftmals warten sie einfach ab, bis sich ein eindeutiger Trend ergibt und sie auf Verkauf- oder Kaufmodus umschwenken.
Strategen bauten in nahezu allen Branchen ihre M&A-Präsenz gegenüber den Finanzinvestoren aus. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Viele der großen Unternehmen wie Daimler oder BMW sind dank der umfangreichen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen hervorragend durch die Coronakrise gekommen und konnten in der Folge hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausschütten, da sie sich in der Krise auf das Premiumsegment konzentrierten, wo sie höhere Margen erzielten. Bei ihnen sind die Kriegskassen gut gefüllt.
Außerdem sieht man bei den Unternehmen angesichts des hohen Innovationsdrucks durch Anforderungen wie Effizienzsteigerung und Digitalisierung einerseits eine Konzentration auf das Kerngeschäft und infolge des Letzteren auch eine Zunahme an Carve-outs und andererseits vermehrte Zukaufaktivitäten, um den technologischen Sprung und die Digitalisierung in den Kernbereichen durch anorganisches Wachstum zu beschleunigen. M&A erweist sich hier als hilfreiches Tool.
Wie kommt es, dass innerdeutsche Transaktionen vergleichsweise stark zurückgingen (um circa 25%), während die Cross-Border-Transaktionen sogar zweistellig zulegten, und das in einer Zeit wachsenden Nationalismus und Protektionismus?
Cross-Border-Transaktionen sind äußerst komplex und dauern mindestens sieben bis neun Monate. Es wurden hier also Transaktionen, an denen zuvor schon länger gearbeitet worden war, trotz Kriegseinbruch und Energiekrise eher noch umgesetzt.
Dennoch glaube ich, dass wir den Peak der Globalisierung überschritten haben, nicht nur wegen der Geschehnisse in der Ukraine, sondern auch wegen Corona und der damit verbundenen Lieferengpässe. Europäische Strategen versuchen bereits, sich von der einseitigen Ausrichtung auf Liefer- und Absatzländer wie Indien, China oder Russland zu befreien und sich stärker auf die europäischen Nachbarn zu fokussieren.
Dänemark ist mit 19 deutschen Targets erstmals unter den Top 10 vertreten und war seinerseits zweimal Zielland einer deutschen Akquisition. Was steckt hinter diesem neuen Dänemark-Boom?
Ja, dänische Käufer überraschten mit der höchsten Wachstumsrate (+533%) im Ländervergleich. Wenn man sich die Aktivitäten dänischer Investoren anschaut, fällt auf, dass sich die Investitionen auf einen Mix unterschiedlicher Branchen beziehen, darunter vor allem Software, aber auch Bau, Packaging, Logistik, Energie, Halbleiter und Industrie. Umgekehrt ist es ebenso. Finanzinvestoren und Strategen waren gleichermaßen daran beteiligt. Unter Umständen zeigt sich in Entwicklungen wie diesen bereits die stärkere Ausrichtung am europäischen Markt.
Welche Sektoren zogen besonders zahlreiche Investitionen an?
TMT und Industrial Manufacturing sind traditionell vorne, unter anderem auch deshalb, weil diese beiden Sektoren ein extrem breites Spektrum abdecken. Healthcare ist eine stark wachsende Branche, die tendenziell auch weniger konjunkturabhängig ist. Bei der Logistik sahen wir zuletzt Sondereffekte: So schossen hier die Containerraten nach oben, weil wegen der Blockade am Suezkanal oder der Lieferstopps in Shanghai reihenweise Containerschiffe vor den Häfen standen. Unternehmen wie Hapag-Lloyd erfreut das. Die Gewinne werden in Marktkonsolidierung investiert. Die Bauindustrie lief im letzten Jahr nicht zuletzt wegen der niedrigen Zinsen und des Infrastrukturausbaus ausgezeichnet. Hier sahen wir viel Wachstum und ein hohes Interesse. Der Trend ist jedoch durch den plötzlichen Inflations- und Zinsanstieg vorerst einmal gestoppt. Das Wachstum im Energiesektor ist auf die Energiewende zurückzuführen.
Die Zahl der Add-ons ist gegenüber Ankerinvestitionen enorm hoch (62% zu 38%). Woran liegt das?
Vor gut zehn Jahren genügte es vielleicht, wenn ein Finanzinvestor ein Unternehmen kaufte, dessen Rendite auch durch die Optimierung der Finanzierungsstruktur steigerte und es später teurer wieder verkaufte. Heute reicht das nicht mehr aus. Es herrscht ein enormer Wettbewerb und die Kaufpreise sind sehr hoch. Buy-and-Build rückt deshalb stärker in den Fokus. So werden Ankerinvestments getätigt, sodann um zwei oder drei strategische Akquisitionen ergänzt und somit ganz andere Unternehmensgrößen und Wertschöpfungsketten erreicht, die dann einen erfolgreichen Exit an eine internationale Käufergruppe ermöglichen.
Die Top-30-Transaktionen verzeichnen ein aggregiertes Dealvolumen von über 43,7 Mrd. EUR, davon 14 mit einem Volumen von über 1 Mrd. EUR. Allein in den besonders schwierigen Monaten Mai und Juni wurden 13 Transaktionen mit einem kumulierten Dealvolumen von über 22 Mrd. EUR verzeichnet. Megadeals mit einem Transaktionswert über 10 Mrd. EUR blieben jedoch aus. Warum?
Es gab anders als 2020 oder 2021 in diesem Halbjahr tatsächlich noch keine Megatransaktionen jenseits von 10 Mrd. EUR; diese sind eher selten. 2021 gab es eine Megatransaktion (Übernahme Deutsche Wohnen durch Vonovia) und 2020 zwei (Verkauf der Elevator-Sparte von thyssenkrupp an ein Bieterkonsortium um Advent International und Cinven sowie den Verkauf von Varian Medical Systems an Siemens Healthineers), während 2019 gar keine Megatransaktion stattfand. Es ist also nicht verwunderlich, dass wir in diesem ersten Halbjahr noch keine Megatransaktion gesehen haben. Überraschend war jedoch, dass knapp die Hälfte der Top-30-Transaktionen in den letzten beiden Monaten des ersten Halbjahres stattfand, obwohl in diesem Zeitraum insgesamt deutlich weniger Deals verglichen zum Vorjahr abgeschlossen wurden.
Wie entwickelten sich Transaktionen mit chinesischer und japanischer Beteiligung?
Im ersten Halbjahr 2022 wurden 13 Transaktionen mit China und 13 mit Japan realisiert. Das ist keine besonders hohe Zahl. Es gab zuvor Jahre, in denen rund 30 Transaktionen umgesetzt wurden. Der sogenannte Ausverkauf an China, von dem oft in der Presse zu lesen ist, findet eigentlich gar nicht statt. Wahrscheinlich würden chinesische Investoren häufiger in Deutschland zukaufen. Die Corona-bedingten Reisebeschränkungen durch die chinesische Regierung verhindern jedoch die Teilnahme an Verkaufsprozessen. Außerdem setzen das europäische und deutsche Antitrust-Recht ihrem Engagement in zahlreichen Branchen inzwischen enge Grenzen.
Wie haben sich die Finanzierungsbedingungen geändert?
Mit dem Zinsanstieg und den eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten sind die Banken deutlich zurückhaltender, man könnte fast sagen: übervorsichtig, geworden. Jenseits von 30 Mio. EUR Fremdkapital schauen sich Banken die Zyklizität und den Sektor genau an. Akquisitionsfinanzierungen in Höhe des sechs- bis siebenfachen EBITDA sind nicht mehr einfach zu bekommen. Es wird mehr Eigenkapital verlangt. In diese Lücke springen schon seit einiger Zeit Debt Fonds. Diese sind deutlich flexibler, aber gleichzeitig auch teurer.
Wird es eine Zunahme bei Distressed-M&A-Deals geben?
Aktuell sehen wir noch keinen Anstieg bei Distressed M&A. Meines Erachtens liegt das an den hohen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen. Damit werden nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen künstlich am Leben gehalten. Dies ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Ich hatte vor zwei Wochen wieder einen ersten Distressed-Fall. Das Unternehmen war nicht etwa wegen Corona oder wegen des Ukrainekriegs in einer schwierigen Situation, sondern wegen seiner zu hohen Pensionsverpflichtungen.
Wie sieht Ihr Ausblick für 2022 aus?
Die Auftragsbücher sind weiterhin gut gefüllt, aber wir werden nicht an das Boomjahr 2021 anknüpfen können. Ich gehe davon aus, dass in diesem Jahr insgesamt rund 2.000 Transaktionen abgeschlossen werden, was nach wie vor über dem langjährigen Durchschnitt liegt.
Herr Dr. von Alten, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch!
ZUR PERSON
Dr. Florian von Alten ist Vorstandsmitglied bei Oaklins Germany und war von 2016 bis 2019 Präsident und Vorsitzender von Oaklins International. Er trat 1994 als M&A-Berater in die Firma ein und wurde dort 1998 zum Partner ernannt.
Das Interview erscheint in der nächsten Magazinausgabe der Unternehmeredition 3/2022 mit Schwerpunkt “Unternehmensverkauf/M&A”.
Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.