„Digitalisierung funktioniert nur durch Integration von Altem und Neuem”

© Alexander Limbach_AdobeStock

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, sollten sich Unternehmen jetzt mit der Digitalisierung ihres Geschäftsmodells auseinandersetzen. Die Corona-Pandemie hat der Wirtschaft diesbezüglich gerade zu einem besonderen Schub verholfen. Die Zeichen stehen deshalb gut für eine Rundumerneuerung sowohl im Rahmen von internen als auch von externen Übernahmeprozessen. Die Unternehmeredition sprach mit Andre Waßmann von der Unternehmens- und M&A-Beratung Helbling Business Advisors.
INTERVIEW EVA RATHGEBER

Unternehmeredition: Welche Wirkung hat die Corona-Pandemie auf das M&A-Geschäft? Sehen Sie gerade jetzt in Pandemiezeiten eine besondere Chance, im Zuge einer Übernahme auch die Digitalisierung der Unternehmen voranzubringen?
Andre Waßmann: Ich beschäftige mich sehr viel mit verschiedensten Geschäftsmodellen und mit den Auswirkungen makroökonomischer Entwicklungen auf den M&A-Sektor. Das M&A-Geschäft ist meines Erachtens von der makroökonomischen Entwicklung relativ abgekoppelt. Wenn man genauer hinsieht, ist es kein zyklisches Geschäft, sondern es geht um eine strategische Entscheidung. Wenn ich meine Entscheidung oder den Start einer Transaktion allein von der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung abhängig mache, dann bekomme ich das M&A-Geschäft nicht hin, denn dabei geht es um langfristige strategische und finanzielle Auswirkungen auf mein Geschäft oder mein Portfolio. Hinzu kommt der M&A-Prozess − ein M&A-Projekt dauert ungefähr sechs bis zwölf Monate. Und eine vorgelagerte strategische Entscheidung dauert auch nochmal sechs bis zwölf Monate. Es wird also eine relativ lange Durchlaufzeit benötigt, bis man überhaupt den wirtschaftlichen Erfolg der M&A-Transaktion sehen kann. Mit der Pandemie ist es für mich so ähnlich: Wenn ich einen Digitalisierungsprozess starten möchte, dann würde ich das nicht von der Pandemie abhängig machen. Die Pandemie hat nur ganz deutlich gezeigt, dass die Digitalisierung grundsätzlich erforderlich ist. Wer es nicht schon vorher gemacht hat, sollte sich spätestens jetzt die Frage stellen, ob und wie man diese Zäsur nutzen kann, um notwendige Veränderungen herbeizuführen. Bei diesen Überlegungen sollte im Übrigen nicht nur die Digitalisierung im Vordergrund stehen, sondern der grundsätzliche Wille, das Unternehmen neu und resilienter aufzustellen.

Unternehmeredition: Was sind die konkreten Herausforderungen der Digitalisierung und warum schreckt diese immer noch so viele Unternehmen ab?Waßmann: Für Mittelständler und kleinere Unternehmen ist die digitale Transformation zumeist ein Riesenakt. Häufig wissen sie nicht wie und womit sie anfangen sollen, daher haben viele diese Unternehmen Angst vor dem ersten Schritt. Erfolgreiche Hidden Champions dagegen sind den Erfolg gewohnt und nehmen sich daher eher zu viel vor. Hier besteht die Gefahr, dass, wer zu viel will, hinterher gar nichts unternimmt. Eine Statistik besagt, dass bislang nur 87 Prozent der deutschen KMUs eine Webseite haben, über die sie ihre Produkte anbieten. Auch wenn Deutschland damit sogar zehn Prozent über dem europäischen Durchschnitt liegt, sind es immer noch nicht alle Unternehmen. Oft scheitert es an operativen Schwierigkeiten. Viele haben schlichtweg nicht die Logistik oder Infrastruktur, um so ein Projekt umzusetzen und auch keine Idee, wie sie das selbst schaffen können. Hinzu kommt ein Fehlglaube darüber, was eine Effizienzsteigerung wirklich bringt. Hier stehen Sichtbarkeit von außen und Erwartung oftmals im Widerspruch zueinander. Die größte Effizienzsteigerung bringt nämlich nicht allein das Frontend, sondern es gehören auch die Prozesse im Hintergrund dazu, die man auf den ersten Blick so gar nicht sieht. Nehmen wir das Paradebeispiel Amazon. Was die vor allem haben, ist ein digitales Backend, in dem alles integriert ist. Wenn also beispielsweise irgendwo eine Bestellung im System ausgelöst wird, dann wird irgendwo ein Trigger gesetzt, damit ein Roboter das Buch aus dem Hochregallager holt, basierend auf dem Code einer Unique Identity.

Unternehmeredition: Wie sollte man also vorgehen?
Waßmann: Wichtig ist vor allem ein holistischer Ansatz. Es geht dabei insbesondere um Prozessqualität und Geschwindigkeit. Egal, was man macht, wichtig ist Prozessoptimierung. Man muss sich anschauen, welches Ziel man hat und wie man da hinkommt. Dafür ist es notwendig, die gesamten Abläufe auf den Prüfstand zu stellen und zu sehen, wo sich diese optimieren lassen. Es geht also darum, sich im Einzelnen anzuschauen, wie man produziert und distribuiert, wie man sein Personal managed und wie stark man Kunden und Lieferanten einbindet. Ein solch ganzheitlicher Blick führt dabei meist zu einem integrierten Plattformansatz. Ich bin ein großer Fan von Plattformen, da dort alle Markt- oder Prozessteilnehmer – die Stakeholder – auf Basis integrierter Prozessschritte und durch Zugriff auf gemeinsame Daten für die Entwicklung von Produkten oder zum Agieren auf Märkten zusammenkommen.  Das ist ein absolut zukunftweisendes Konzept. Allerdings muss man sich hier natürlich auch anschauen, was das für die Datensicherheit bedeutet. Grundsätzlich aber muss im Mittelpunkt all meiner Überlegungen die Frage stehen: Wie biete ich meinem Kunden den bestmöglichen Nutzen?

Unternehmeredition: Wie sähe ein Digitalisierungsprojekt mit Ihnen konkret aus?Waßmann: Nehmen wir an, dass ein Kunde zu Helbling kommt, der sich selbst noch nicht sicher ist, was er tun muss, um sich zukunftsfähig aufzustellen. Dann würden wir uns zunächst sein Unternehmen genau ansehen, seine Systemabläufe analysieren und uns anschauen, was, wann und wie digitalisiert werden kann und welche Art von Optimierung möglich ist hinsichtlich bestimmter Faktoren wie Geschwindigkeit, Preis und vor allem Qualität für mehr Kunden- und Lieferantenzufriedenheit. Danach entscheiden wir, ob es Sinn macht, ein internes Digitalisierungsprojekt zu starten oder ob vielleicht eher ein Zukauf sinnvoll wäre. Es besteht ja auch die Möglichkeit, eine kluge Investition in ein Start-up oder in ein digitales Unternehmen zu tätigen oder eine Kooperation mit einem digitalen Unternehmen einzugehen. Der Vorteil: Mit einem solchen Schritt wären die ganzen Herausforderungen durch einen einzigen Sprung zu überbrücken. Die Integration eines solchen digitalen Players führt dazu, dass man den digitalen Wandel mit einem Bruchteil an Zeit und Aufwand vollziehen kann. Bei einem solchen Mergerkandidaten kann es sich um einen Competitor handeln oder auch um ein Unternehmen, das eine Diversifizierung in der Wertschöpfungskette bietet, zum Beispiel in den Bereichen Produktion, Zulieferung oder Distribution. Natürlich muss dafür gesorgt werden, dass die Innovation gut assimiliert werden kann. Eine solche „Post-Merger-Integration“ bedeutet dabei nicht, dass man nur das Logo austauscht, sondern es erfordert, die Schnittstellen so herzustellen, dass sowohl die Informationstechnologie vereinheitlicht wird als auch zwei unter Umständen unterschiedliche Kulturen aneinander angepasst werden. Gerade dieser Punkt ist wichtig, denn ein Unternehmen kann nur dann durch Zukauf erfolgreich digital werden, wenn eine gemeinsame Kultur und Akzeptanz entsteht, kurz – wenn sich auch die Mitarbeiter verstehen und mögliche Unterschiede akzeptieren. Für uns ist es deshalb wichtig, nicht nur den bestmöglichen Partner – ob Investor oder Target – zu identifizieren, sondern den gesamten M&A-Prozess umfassend zu gestalten und zu begleiten, damit die Transaktion nicht noch auf der Zielgeraden schiefgeht.

Unternehmeredition: Sehen Sie die technischen Herausforderungen als weniger gravierend an?
Waßmann: Ja, das ist heute kein so großes Problem mehr. Es gibt mittlerweile viel bessere Schnittstellen als früher. Nehmen wir zum Beispiel die Banking API, mit der ein Fintech-Start-up in Echtzeit auf die Online-Kontodaten der jeweiligen Hausbank zugreift. Was früher unmöglich schien, ist heute in weiten Teilen der Finanzwelt längst Realität. Die wahre Herausforderung ist es, die unterschiedlichen Unternehmensphilosophien erfolgreich zu vereinen. Und das ist wahrlich keine leichte Aufgabe, denn digitale Unternehmen sind in der Regel anders organisiert – sowohl in der Struktur als auch in ihren Abläufen. Ein gutes Beispiel ist die Incentivierung – Mitarbeiter erhalten typischerweise Unternehmensanteile, teils als Vergütungsbestandteil. Arbeitsabläufe sind agiler und tendenziell weniger formell.  Bringt man diese unterschiedlichen Philosophien zusammen, kann sich daraus durchaus eine Win-Win-Situation entwickeln: Der Mittelständler bekommt die Digitalisierung ins Haus, die er selbst wegen der genannten Hürden nicht alleine bewältigen könnte. Und das Start-up bekommt Finanzmittel und einen starken Partner mit einer starken Infrastruktur, einem breiten Distributionsnetzwerk und einer bekannten Marke. Wichtig dabei ist, dem Start-up eine gewisse Unabhängigkeit zu belassen, will man den vollen Nutzen aus einer solchen Partnerschaft ziehen.

Unternehmeredition: Grundsätzlich bietet also ein solcher M&A-Prozess, die Möglichkeit, sich zu verjüngen und die Digitalisierung zu pushen?
Waßmann: Ja, wenn man es richtig macht. Gerade die nachfolgende Unternehmergeneration, die sogenannte NextGen, sieht die digitale Geschäftsstrategie als drängendste Aufgabe an. Dafür ist es wichtig, dass die beiden Generationen zusammenwachsen und an einem Strang ziehen.  Ich bin überzeugt, dass das Erfolgsrezept hier die Kombination der Fähigkeiten ist. Auf der einen Seiten braucht es den klassischen Unternehmer- und Pioniergeist, die Beharrlichkeit von früher, das heißt das Wissen, wie man als Hidden Champion groß geworden und geblieben ist. Und wir brauchen die zusätzlichen Fähigkeiten der neuen Generation mit ihrer Geschwindigkeit, ihren unbürokratischen und unhierarchischen Methoden und ihre Fähigkeit, alles in Frage zu stellen. Nur mit vereinten Kräften wird es funktionieren. Digitalisierung ist eine Herausforderung, die insbesondere jüngere Leute meistern können. Sie sind mit den neuen technologischen Möglichkeiten aufgewachsen. Aber die Vorgehensweisen, wie ich beispielsweise sauber analysiere, ein gutes Konzept entwickle, nachdem ich mir das Ziel gesetzt habe, wo ich hin will − das sind keine komplett neuen Methoden. Strategieberatung hat immer so funktioniert. Nur muss man heute ein bisschen schneller sein. Früher dauerte eine Strategie fünf, heute nur noch drei Jahre. Die Welt wandelt sich immer schneller – gefühlt weiß ich heute schon nicht mehr, was morgen für mein Geschäft wichtig sein wird.  Aber grundsätzlich geht es immer noch darum, zuerst eine Vision zu entwickeln, wo ich hinwill. Daran hat sich nichts geändert. Die Digitalisierung ist da nun hinzugekommen und es gilt, sich dafür die besten Köpfe reinzuholen, extern oder intern. Dafür aber muss der Unternehmer an dieser Stelle loslassen können und der jungen Generation die Chance geben, die neuen Herausforderungen zu meistern. Er braucht dafür gute Leute und die findet er vorzugsweise bei den Digitalexperten der NextGen. Die Pandemie wirkt hierbei als Trigger und das sollte dringend genutzt werden, um Veränderungen im Unternehmen gemeinsam durchzubringen. Die Pandemie ist aber nicht der einzige Grund, warum die Digitalisierung jetzt angegangen werden sollte. Auch ohne Pandemie würde ich immer empfehlen, schnellstmöglich zu analysieren, schnellstmöglich ein Konzept zu entwickeln, dieses schnellstmöglich umsetzen und das Geschäftsmodell regelmäßig zu hinterfragen.

Wir danken Ihnen herzlichen Dank für dieses informative Gespräch!


ZUR PERSON

Andre Waßmann ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Helbling Business Advisors und verantwortlich für den Bereich M&A und Financial Advisory. Er ist zudem spezialisiert auf Strategie und Corporate Finance. Hierbei fokussiert er stark auf Megatrends. Einer seiner Schwerpunkte sind Transaktionen im Digitalisierungsumfeld.

 

Autorenprofil

Als Chefredakteurin der Unternehmeredition berichtet Eva Rathgeber regelmäßig über Unternehmen und das Wirtschaftsgeschehen. Sie verfügt über langjährige Erfahrung im Wirtschaftsjournalismus und in der PR.

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