Der deutsche Mittelstand erholt sich langsam von der COVID-19-Krise, doch die Pandemie hat die Achillesfersen hiesiger Unternehmen schonungslos offengelegt: Fehlende Frauen in Führungspositionen, geheuchelte Diversität oder der schier nicht aufzuholende Rückstand in puncto digitaler Transformation und ESG – die Wirtschaft hat aktuell nicht nur ein Problem. Und die Herausforderungen reißen auch in nächster Zeit nicht ab. Ganz im Gegenteil: Der Druck nach exponentiellen Innovationen, das Vorantreiben des digitalen Wandels und des „New Way of Working“ sowie eine diversere und inklusivere Arbeitswelt setzen die Unternehmen immer mehr unter Zugzwang. Wer dabei nicht auf die richtige Kultur als Schlüsselkomponente setzt, wird langfristig scheitern.
Die deutsche Wirtschaft, und insbesondere der Mittelstand, schlittert seit geraumer Zeit auf einen (kulturellen) Notstand zu – die Coronakrise hat die Notwendigkeit zu einem Umdenken dabei lediglich angefeuert. Zwar beschäftigen sich Unternehmen intensiv mit der Ausarbeitung neuer Geschäftsstrategien, doch die tatsächliche Umsetzung dieser unter Einbindung der Mitarbeitenden steht häufig weniger im Fokus. Dabei gelingt eine erfolgreiche Business Transformation nur dann, wenn auch die Unternehmenskultur radikal und konsequent verändert wird.
Kultur als entscheidender Faktor
Transformationsprozesse – unabhängig von ihrer Natur – gelingen in den seltensten Fällen ohne die dazugehörige Veränderung der Unternehmenskultur. Der Grund dafür ist simpel: Die Menschen, auf die sich der Change letztendlich auswirkt, werden dabei schlicht und einfach vergessen. Die Problematik dahinter ist, dass Unternehmen genauso innovativ sein möchten wie die großen Weltkonzerne à la Google, Microsoft oder Apple. Jedoch fehlt es oftmals an dem grundlegenden Verständnis, was genau Innovation für ihre Organisation bedeutet. Um Transformation nicht nur anzustoßen, sondern langfristig erfolgreich zu realisieren, müssen Unternehmen in erster Linie eine Kultur etablieren, die Innovation und Kreativität fördert und in Folge dessen Wandel überhaupt erst ermöglicht. Mitarbeitende sollten darin bestärkt werden, Neues auszuprobieren, kreativ zu werden und Ideen eigenständig und proaktiv zu entwickeln. Ein Umdenken muss also vor allem in Organisationen stattfinden, die bislang auf eine starke Hierarchie aufbauen – lange Entscheidungswege und die Einschränkung der Eigenständigkeit von Mitarbeitenden ist für Transformation jeglicher Art mehr Hindernis als Hilfe.
Mit welcher Dringlichkeit der deutsche Mittelstand auf einen Kulturwandel zuschlittert, zeigen auch diverse Umfragewerte. Die Mehrheit der Führungsriege ist sich der Notwendigkeit eines Transformationsprozesses durchaus bewusst: Rund 90% der Führungskräfte geben an, dass in ihrem Unternehmen Qualifikationsdefizite bestehen oder in den nächsten fünf Jahren bestehen werden. Zudem ist die „New World of Working“ durch radikale Veränderungen geprägt – eine rein auf Präsenz-Office basierende Kultur wird es kaum noch geben. In Zukunft werden 70% der Interaktionen zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden beispielsweise remote stattfinden.
Dass viele Mittelständler ein Umdenken – und das nicht nur auf kultureller Ebene – benötigen, ist durchaus nichts Neues. Die bestehenden hierarchischen Strukturen und alteingesessenen Kulturmodelle sind Schnee von gestern. Wer in Zukunft nicht nur erfolgreich, sondern auch den gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht werden will, braucht eine radikale Transformation. Ausschlaggebend dafür ist jedoch, dass zukünftige Manager entsprechend auf ihre neue Rolle vorbereitet sind – aktuell herrscht diesbezüglich jedoch Pessimismus: Nur 47% der Führungskräfte sehen sich auf ihre zukünftige Führungsrolle vorbereitet.
Wie gelingt also der Culture Shift?
Der Culture Shift muss – ähnlich wie bei anderen Transformationsprozessen wie beispielsweise der Digitalisierung – konsequent und transformatorisch sein. Dazu zählt in erster Linie auch, sich von gewohnten Mustern und Strukturen im Sinne einer Kultur-Trilogie zu verabschieden: Einiges wird man behalten, einiges anders machen bzw. neu entwickeln und einiges muss weg. Letzteres ist meist die größte Herausforderung. Entscheidend ist ein Bewusstsein zu etablieren, das Kulturwandel als einen allumfassenden Prozess versteht – top-down, bottom-up, von links nach rechts. Um erfolgreich zu sein, muss die Kultur jedoch zunächst vom Top-Management unter Abstimmung mit der Businessstrategie festgelegt und im nächsten Schritt von den Führungskräften vorgelebt sowie von den Mitarbeitenden verstärkt werden. Dafür sind die Zustimmung und das Commitment der Führungskräfte entscheidend. Zudem müssen alle Prozesse, Prioritäten und Vorgehen an die neue Zielkultur angepasst werden. Ebenso sollten Unternehmen die Bereitschaft haben mit Rückschlägen umzugehen und diese nicht als Scheitern zu interpretieren. Wandel ist immer ein Prozess, der in systemischen Schleifen verläuft und Rückschläge beinhaltet.
Führung als Wegbereiter des Kulturwandels
Wandel geht nur mit einer entsprechenden Führung. Das bedeutet auch, dass Führungskräfte in ihrer Rolle als wichtige Multiplikatoren die Verantwortung für den erfolgreichen Shift übernehmen müssen. Ein Kulturwandel ohne Leadership-Development wird langfristig nicht funktionieren; der „New Way of Working“ erfordert nun mal andere Verhaltensansätze und „softere“ Skills, die Führungskräfte entwickeln und lernen müssen. Das heißt nicht, dass alte Führungsgewohnheiten grundsätzlich schlecht sind, sie müssen vielmehr durch neue Fähigkeiten wie Selbstreflexion ergänzt werden. Und Unternehmen müssen dies als Lernprozess ansehen. Ein Leadership Assessment ist ein erster Schritt, um die Führungskompetenzen von heute hinsichtlich der neuen Kultur zu testen und somit Ansatzpunkte für etwaige Entwicklungsmaßnahmen zu generieren.
Die vier Säulen eines erfolgreichen Kulturwandels:
- Wichtig ist die Passung: Herangehensweisen und Fähigkeiten, die gestern noch den Erfolg des Unternehmens beschleunigt haben, können morgen bereits überholt sein.
- Empowerment der Mitarbeitenden ist zumeist überhaupt nicht Teil der Kultur vieler mittelständischer Unternehmen. Mitarbeitende müssen gefördert und motiviert werden und sich selbst als aktiven Teil des Wandels verstehen.
- Führungskräfte haben eine klare Vorbildfunktion: Damit Kultur funktioniert, müssen alle im Sinne einer Führungskoalition (Guiding Coalition) an einem Strang ziehen und sich als Botschafter der neuen Strategie verstehen. Denn: Mitarbeitende achten zunächst auf ihre Führungskräfte. Folgen diese der neuen Kultur?
- Führungskräfte als Treiber: Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass Führungskräfte den Wandel nicht nur anstoßen, sondern diesen wie alle anderen Mitarbeitenden mittragen. Einerseits sind Führungskräfte also essentielle Treiber des Change-Prozesses und andererseits müssen sie selbst viel dazu lernen.
Unternehmen müssen Kultur also neu denken
Um Transformationsprozesse erfolgreich zu gestalten und auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen Kultur schlichtweg neu denken. Gerade Corona hat vor allem dem deutschen Mittelstand seine Lücken aufgezeigt und die Notwendigkeit zur Kulturgestaltung bewiesen. Unternehmen, die aktiv in ihre Kultur und deren Entwicklung investieren, werden langfristig profitieren. Sie erreichen eine höhere Arbeitnehmerproduktivität und Kundenzufriedenheit, erfahren weniger Absentismus und Fluktuation und sind erfolgreicher bei der Suche nach engagierten Mitarbeitenden. Zudem wirkt sich eine starke Unternehmenskultur, die klar und einheitlich auf die Business-Strategie abgestimmt ist, nicht nur positiv auf die Mitarbeitenden aus, sondern befeuert auch die Geschäftsergebnisse und das Wachstum des Unternehmens.
Dr. Stefan Mauersberger
In seiner Funktion als Partner und Regional Leader für die Regionen Zentral-, Süd- und Osteuropa verantwortet Dr. Stefan Mauersberger unter anderem die Deutschlandgeschäfte der international agierenden Beratung Kincentric, Tochterunternehmen von Spencer Stuart. Mit langjähriger Branchenexpertise berät Dr. Mauersberger internationale Unternehmen bei ihren Transformations- und Wachstumsprozessen. Dabei konzentriert er sich insbesondere darauf, Unternehmen mittels datengestützter Methoden bei der Transformation ihrer Kultur sowie bei Fragen in den Bereichen Leadership und Change Management zu unterstützen.